„Wir brauchen einen grundlegenden Wandel unserer Wertevorstellungen, um ethisches Wirtschaften und gesellschaftliches Miteinander möglich zu machen – basierend auf Nachhaltigkeit, Verantwortung und Empathie.“
Mit dieser Idee im Kopf begann ich diesen Artikel, war ich mir doch zunächst sicher, diese Annahmen wären ein Schlüssel zu einer besseren Zukunft. Denn all das, was bis zu dem heutigen Tag in unserer Welt schiefgelaufen war, muss doch irgendwo in ferner Vergangenheit einen Ausgangspunkt gehabt haben. Der Punkt, an dem die Menschen aus einer falschen Vorstellung heraus damit begannen, unseren Planeten systematisch auszurotten – und dies in jeder Beziehung: Verlust von kultureller Vielfalt, Verlust der Artendiversität, Ausbeutung von Rohstoffen etc.. Anstatt Symptome zu bekämpfen, könnte es doch sinnvoller sein, die Wurzel dieser Vorstellung freizulegen und mit einer zeitgemäßen Aufklärung die Weichen für die Menschheit und den Planeten neu zu stellen.
Kapitel 1
Denken innerhalb gewohnter Kausalitäten und Vorstellungen
Innerhalb meines persönlichen, fachlichen Hintergrundes hatte ich auch schnell eine erste Vermutung parat. Mit Entstehung der monotheistischen Weltreligionen, hatte sich die Vorstellung des Menschen über sich selbst geändert.
Es war der Beginn eines dualen Denkens. Auf der einen Seite stand Gott und auf der anderen Seite der Mensch, der als dessen Abbild geschaffen wurde und innerhalb aller Lebewesen eine Vormachtstellung innehaben sollte.
Dieser Schritt beinhaltete gleich mehrere problematische Annahmen. Zunächst wurde mit der Vorstellung des einen Gottes, ein absolutes Bild geschaffen. Daraus folgend ergab sich die Fragestellung eines richtig oder falsch, eines wahr oder unwahr. Daraus wiederum erfolgt eine Identifikation in die und wir. Es musste differenziert werden, in Gläubige und Ungläubige und es benötigte Autoritäten, die eine Interpretationshoheit dieser „Wahrheiten“ liefern konnten. Es war der Beginn eines Abgrenzungsprozesses. Zum einen unter den Menschen selbst und zum anderen zwischen dem Menschen und der Natur.
Beinahe die komplette Philosophie des Mittelalters, bis hin zur Aufklärung, folgt der Idee dieser Dualität aus Gott und Mensch und versucht diese Vorstellung plausibel miteinander in Einklang zu bringen.
Dabei hatte die Philosophie vor allem die Funktion, bestehende Herrschaftsansprüche und Staatssysteme zu legitimieren, indem sie sich auf eine göttliche Ordnung berief. Mit Thomas Hobbes folgt in der Mitte des 17. Jahrhunderts die Zeit der Vertragstheorien. Logische und praktische Regeln sollen das gesellschaftliche Leben ordnen, anstelle metaphysischer Legitimationen. Im Zuge zunehmenden kaufmännischen Handelns wird es immer wichtiger, staatliche Strukturen zu schaffen, die Rechtssicherheit und Wohlstand garantieren.
Auch wenn es kontroverse Diskussionen gab, setzten sich vor allem 2 Denkweisen durch, die im Grunde bis heute Gültigkeit haben. So begründet der englische Philosoph John Locke das Recht auf Eigentum daraus, dass bestelltes Land ökonomisch genutzt wird und so zum Wohle aller dient. Derjenige der diesen ökonomischen Landnutzen initiiert muss staatlich geschützt werden, in dem ihm das Recht auf Eigentum zugesprochen wird (So wird z. B. auch die Vertreibung amerikanischer Ureinwohner gerechtfertigt – wer sein Land nicht ökonomisch nutzt, handelt moralisch verwerflich und verliert das Recht, dieses Land zu besitzen).
Die zweite Denkweise stammt von Adam Smith und wird bis heute als Grundlage für Volks- und Betriebswirtschaft an den Universitäten gelehrt. Die Rede ist von der Metapher der „unsichtbaren Hand“, die für die Selbstregulierung der Märkte steht – heute sprechen wir von Wirtschaftsliberalismus. Aus dieser Zeit stammt auch die Überzeugung, dass aus dem Egoismus der Händler, Wohlstand für die Gesellschaft resultiert. Denn wenn der Händler seinen Profit steigert und expandiert, schafft er Arbeitsplätze und fördert aus seiner Konkurrenzhaltung heraus die Innovation. Die Gier und der Egoismus des Einzelnen tragen so zum Wohle aller bei. Davon ausgehend, dass der heutige weltumfassende Kapitalismus seinen Siegeszug ab dem Beginn des 16. Jahrhundert aus Europa heraus startete, lässt sich also zusammengefasst folgendes sagen:
Aus dem absoluten Anspruch der christlichen Religion resultierte ein wertendes Selbstverständnis und eine unreflektierte Vormachtstellung in der Denkweise der Europäer.
Die mit der Aufklärung beginnende Logik und empirische Wissenschaft resultiert paradoxerweise ebenfalls aus der monotheistischen Idee, einer Dualität aus Gott und Mensch. Denn auch wenn die Wissenschaft beginnt, die Natur unabhängig von der Wirkungsweise eines Gottes zu untersuchen, behält sie in ihrer Beobachtung doch die Vorstellung eines Richtigen und eines Falschen. Doch gerade diese Idee der Wahrnehmung basiert auf der Annahme eines einzigen, unfehlbaren und absoluten Gottes.
(Anmerkung: Es ist mir klar, dass gerade diese Vorstellung für den europäischen Leser nicht auf den ersten Blick verständlich ist. Aus wissenschaftlicher Sicht verweise ich hier auf die Heisenbergsche Unschärferelation, die besagt, dass zwei komplementäre Eigenschaften eines Teilchens, nicht gleichzeitig beliebig genau bestimmbar sind. Aus philosophischer Sicht verweise ich auf das Prinzip des Yin und Yang, welches als grundlegendes Konzept im 3. Jahrhundert v.Chr. aufkam und wesentlicher Bestandteil der konfuzianischen Kosmologie ist.)
Der Egoismus des Handelns, das Ausbeuten von Ressourcen und die Expansion wurden ausdrücklich als positive Werte für die Gesellschaft gesehen.
Kapitel 2
Eine andere Perspektive – alles eine Frage der Zwangsläufigkeit?
Im ersten Teil wurde davon ausgegangen, dass gesellschaftlichen Entwicklungen Überzeugungen und Ideen zugrunde liegen, die dann das Miteinander und Handeln aller definieren.
In seinem Buch „Arm und Reich“ versucht der US-amerikanische Evolutionsbiologe und Anthropologe Jared Diamond die Antwort auf die scheinbar einfache Frage zu geben, warum manche Völker im Wohlstand komplexer Gesellschaften und andere in Strukturen wie vor tausenden von Jahren leben. Auch hier scheint es einen Ausgangspunkt in der Vergangenheit gegeben zu haben, an dem sich die Form des Zusammenlebens zu differenzieren begann. Diese Veränderungen wurden jedoch nicht durch die Erschaffung eines Gottes oder sonstiger philosophischer Ideen bewirkt. Diese waren letztendlich nur das Resultat einer anderen Ursache. Jared Diamonds Ausgangspunkt liegt in der Vielfalt der gegebenen Voraussetzungen. Es war wie der Start eines Wettkampfes, bei dem die Hilfsmittel unfair verteilt sind. Ursache für die Entwicklung vom Menschen, der in Form von Nomadentum und Dorfgemeinschaften organisiert ist, bis hin zu komplexen, modernen Gesellschaften, ist allein die Verfügbarkeit vorhandener Ressourcen. So analysiert Diamond die Ausgangssituation, in der sich unser Planet vor etwa 3 Millionen Jahren befand. Er differenziert den Planeten in Kontinente, Klimazonen und anhand geografischer Grenzen (z. B. Gebirge, Wüsten). Er unterteilt die verschiedene Zonen aufgrund ihrer Anzahl an domestizierbaren Tier- und Pflanzengattungen. Das Ergebnis ist erstaunlich. Die Entwicklung menschlicher Gesellschaften ist direkt abhängig von diesen Ausgangsbedingungen. Nur wenn Tier- und Pflanzenarten domestizierbar und sie sich gleichzeitig innerhalb klimatisch günstiger Regionen befanden, konnte Ackerbau erfunden und darauf aufbauend, Handel betrieben werden. Handel und Informationsaustausch, sowie Expansion domestizierter Arten (Getreidesorten, Nutztiere etc.) gelang wiederum nur dort, wo aufgrund geografischer Gegebenheiten ein Austausch möglich war. Grob unterscheidet Diamond also z. B. zwischen dem eurasischen Kontinent, der eine West – Ostausdehnung innerhalb ähnlicher Klimazonen und einer Fülle domestizierbarer Tier- und Pflanzenarten aufweist, versus dem Nord- und Südamerikanischen Kontinent.
Dieser erstreckt sich von Norden nach Süden, durchläuft diverse Klimazonen, die einen Austausch der ohnehin spärlichen domestizierbaren Tier- und Pflanzenarten unmöglich machen und einen Handelsaustausch eklatant erschweren. Jahrtausende lang schien sich das menschliche Zusammenleben auf dem ganzen Planeten in ähnlichen Formen und Geschwindigkeiten zu entwickeln. Doch es ist wie eine schwere Dampfeisenbahn, die gehörig Zeit braucht um ihre Fahrt aufzunehmen und schließlich nicht mehr zu stoppen ist.
Das Zusammenleben in Dörfern, welches zu Städten und schließlich Staaten geführt hat, entfesselte einen Innovationstsunami: von der Erfindung des Feuers, Rades, Buchdruckes, Schießpulvers, bis zur Erkenntnis physikalischer, chemischer und biologischer Grundlagen. Doch die Innovationen sind nicht linear, sondern geschehen in Stufen, sind sie doch von spezifisch übergeordneten Erkenntnissen abhängig. Einzelne Zivilisationen haben schließlich einen so großen Innovationsvorsprung erreicht, dass sie nicht nur hemmungslos expandieren um Nahrung für ihren unstillbaren Hunger zu erhalten, sie sind den anderen Kulturen auch gnadenlos überlegen. Wir erleben nicht nur die beinahe komplette Ausrottung indigener Völker, sondern auch die Versklavung eines ganzen Kontinentes (Afrika).
(Die Rolle Chinas und die Gründe, warum dieses mächtige Reich in der Zeit von etwa 500 n.Chr bis 2000 n.Chr nicht die oben beschriebene – oder besser gesagt NOCH NICHT – Expansion vollzog, liegt in einer politischen Besonderheit der inneren Abgrenzung, die in aller Ausführlichkeit in dem Werk „Aufstieg und Fall der großen Mächte“ des britischen Historikers Paul Kennedy nachzulesen ist, der sich dort detailliert mit diesen Umständen auseinandersetzt.)
Diamond beschreibt also die Entwicklung menschlicher Gesellschaften, als eine Art Zwangsläufigkeit gegebener Umstände.
Denn auch wenn sich einzelne Staaten innerhalb gewisser Details und Moden differenziert strukturieren, folgen sie im Großen und Ganzen diesen grundsätzlichen Mustern. Die zwangsläufige Abfolge natürlicher Muster ist auch aus der Biologie bekannt. Beginnend bei einfachen organischen Lebensformen, finden wir ein klassisches Muster beim Wachstum von Bakterien. Im geschlossenen System einer Petrischale unterscheidet man zunächst die langsame „Lag-Phase“, welche von der exponentiellen „Log-Phase“ abgelöst wird. Nach der daran anschließenden „stationären“ Phase folgt tendenziell die „Todesphase“, sobald die Ressourcenbasis erschöpft ist. Aber auch bei komplexeren Spezies lassen sich Muster erkennen, welche sich zwangsläufig ergeben. Bereits Darwin erkannte, dass auf individuelle genetische Variation, eine Selektion im Sinne von erfolgreich – nicht erfolgreich folgt. Eine Anwendung dieser Muster auf menschliche Gesellschaften definierte der Soziologe Niklas Luhmann:
Die Variation eines Individuums wirkt als Irritation auf das System, welches sich in Folge daraus zu stabilisieren sucht.
Was umständlich klingt bedarf einer kurzen Erklärung. Die einzelne Person innerhalb einer Gesellschaft wird nie als unabhängig gesehen, sondern im ständigen Austausch mit seinem Umfeld. Daraus ergibt sich eine Wechselwirkung. Ein einzelner Impuls in die Gesellschaft sorgt zwar für eine Irritation, in der Stabilisierungsphase wird dieser Impuls aber wieder nivelliert. Erst wenn mehrere Individuen auf diesen Impuls reagieren und ihn weitergeben, stellt sich eine Stabilisierung für genau diese Veränderung ein. Wenn ich als Individuum aber in Abhängigkeit zu meinem Umfeld und deren Wechselwirkung mit mir selbst stehe, stellt sich nicht nur sehr schnell die Frage, inwiefern ich überhaupt Einfluss auf das System nehmen kann (da ich ja Teil dessen bin), sondern nach der Freiheit meines Handelns im Grundsätzlichen. In Prinzip beschreibt z. B. Immanuel Kant bereits in seinem Kausalitätsprinzip ganz gut dieses Dilemma. Kausalität beschreibt er, als Schema des menschlichen Geistes, die Sinneseindrücke durch den Verstand zu ordnen. Das hat für ihn aber nichts mit der objektiven Welt zu tun, sondern beschreibt die Rolle des Einzelnen innerhalb seiner Wirklichkeit (An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Kant die Idee der Freiheit des menschlichen Handelns nicht pauschal negiert. Neben dem, was der Mensch durch seine Sinne erfährt, gibt es für Kant „das Ding an sich“, welches dem Menschen als reale Vorlage dient und nicht durch den Verstand – und somit durch Ursache und Wirkung, strukturiert werden kann. Dieses „Ding an sich“ lässt sich zumindest in Form einer Ahnung wahrnehmen.).
Als letztes Beispiel für die Gesetzmäßigkeit des Zwangsläufigen möchte ich mit dem griechischen Geschichtsschreiber Thukydides geben. In seinem historischen Werk „Der peloponnesische Krieg“, beschreibt er bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. die Abfolge von politischen Systemen, als vollkommene Zwangsläufigkeit. 2500 Jahre später lässt sich anhand der Weltgeschichte wunderbar bestätigen, wie Recht er damit hatte.
Kapitel 3
Lösung als Konflikt – Konflikt als Lösung
Ob nun der Mensch in seinem Handeln und Denken frei ist und inwiefern er Einfluss auf seine Gesellschaft nehmen kann, darüber lässt sich endlos diskutieren.
Als ich dem Psychologen Dr. Alexander Noll die Thesen dieses Beitrages vorstellte, reduzierte er mein gesamtes Anliegen auf die Frage „warum“. Was motiviert mich über dieses Thema nachzudenken und warum möchte ich eine Veränderung bewirken, bzw. Einfluss auf die Welt nehmen? Plötzlich spielen alle Philosophen und großen Denker eine untergeordnete Rolle. Die Antwort auf diese Frage kommt unserem Selbstverständnis als Mensch wahrscheinlich näher, wie jegliche abstrakte Philosophie.
Denn es bin ich als Mensch, der aufgrund meiner eigenen Wahrnehmung ein Szenario entwirft, dem ich mit äußerem Aktionismus, als Lösung eines inneren Konfliktes begegne.
Das ist einem zunächst nicht bewusst, da die beobachteten Konflikte ja in einer vermeintlich objektiven Außenwelt liegen. Wenn ich also z. B. den Verlust der Vielfalt von Tier- und Pflanzenwelt beobachte, ist das eine Beobachtung in der Außenwelt. Das Gefühl von Verlust und Endlichkeit entsteht aber in mir selbst. Wenn ich z. B. den Prozess der Digitalisierung und der zunehmenden politischen Radikalisierung beobachte, ist das eine Beobachtung in der Außenwelt und das Gefühl von Ohnmacht, Kontrollverlust und Existenzangst ist in mir selbst. Wenn ich z. B. die zunehmende anonyme Oberflächlichkeit sozialer Medien und des gesellschaftlichen Miteinanders beobachte, entsteht mein eigenes Gefühl der Einsamkeit daraus. Laut Noll wäre es mit Sicherheit einfacher, diese inneren Konflikte zu lösen, als zu versuchen, die äußere Welt von ihrem Wirrwarr zu befreien.
Dabei wäre ich nicht allein. In seinem Buch „Wir sind dran“ gibt der Naturwissenschaftler Prof. Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Co-Präsident des Club of Rome, der bereits in den 70er Jahren mit dem Buch „Die Grenzen des Wachstums“ für Aufsehen sorgte, nicht nur eine Art Zustandsbericht über die Welt, sondern zeigt auch diverse Lösungsansätze akuter, globaler Probleme. Zunächst beschäftigt auch ihn die Frage nach den Ursachen. Dabei kommt er zu einer interessanten Differenzierung. Er unterscheidet zwischen einer „vollen“ und einer „leeren“ Welt. All unser Handeln, unsere philosophischen und wirtschaftlichen Ideen stammen aus einer Zeit, in der unbegrenztes Wachstum möglich war. Neue Märkte, Anbaugebiete oder Rohstoffressourcen konnten beinahe nach Belieben erschlossen werden (leere Welt). Wer vor einhundert Jahren z. B. mehr Fische verkaufen wollte, brauchte größere Boote und musste mehr fischen – eine einfache Gleichung.
Wer heute mehr Fische verkaufen will, muss sich zunächst einmal um stabile Bedingungen und einen sicheren Fortbestand kümmern. Er beschreibt, wie die Strukturen unseres heutigen Handelns auf historischen Glaubenssätzen beruhen und in ihren falschen Annahmen zum Scheitern verurteilt sind, da sich die Bedingungen teils radikal geändert haben. Gleichzeitig machen wir beinahe ausnahmslos so weiter, als wäre endloses Wachstum immer noch möglich (volle Welt).
Ganz in der Tradition des „Club of Rome“, ist die aktuelle Publikation auch eine Art Sammelband aktueller Forschung. Quer durch alle relevanten Bereiche, wie Verkehr, Landwirtschaft, Energie, Klima usw. wurden aktuelle Studien zusammengetragen, um zunächst einen Überblick zu bekommen.
Doch auch wenn es ein wachsendes Bewusstsein für die Notwendigkeit eines Umdenkens gibt, sind konkrete Umsetzungen eher bescheiden. Der Münchner Soziologe Prof. Dr. Armin Nassehi beschreibt in einem Vortrag über „Komplexität“ die Schwierigkeit, gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Sein Bild ist, sich die Gesellschaft als eine Art laufenden Benzinmotor vorzustellen, in dem alles seine Funktionsweise hat. Jeder Versuch einer Veränderung – z. B. aus dem Benzinmotor einen Dieselmotor zu machen – muss unter der Prämisse stattfinden, dass der Motor dabei niemals ausgeht. Denn natürlich ist die Welt voller schlauer Menschen und noch schlaueren Publikationen, die auf einem weißen Blatt Papier beschreiben, was wir machen „müssten“ und wie wir leben „sollten“, um eine nachhaltige, bewusste und zukunftsfähige Gesellschaft zu erschaffen. Nur, dass wir in unserem Handeln nicht radikal stoppen können, um auf einem weißen Blatt Papier neu zu beginnen. Die Herausforderung besteht in der Schaffung eines Überganges. Wie groß diese Herausforderung ist, möchte ich am Beispiel der Agenda 2030 verdeutlichen. Im Jahr 2015 einigte sich die UNO in der Agenda 2030 auf siebzehn nachhaltige Entwicklungsziele:
No poverty, zero hunger, good health and well-being, quality education, gender equality, clean water and sanitation, affordable and clean energy, decent work and economic growth, industry innovation and infrastructure, reduced inequalities, sustainable cities and communities, responsible consumption and production, climate action, life below water (bezogen auf Umweltschutz), life on land (bezogen auf Umweltschutz), peace – justice and strong institutions, partnerships for the goals.¹
Die ersten 11 Ziele können also als sozioökonomische Ziele, 13–15 als Umweltziele, 16–17 als soziale Ziele gesehen werden. Ein wunderbares weißes Blatt Papier mit einem wunderbaren Anspruch. Fast wäre man schon geneigt sich entspannt zurückzulegen, hat doch immerhin die UNO die Zeichen der Zeit erkannt und wird das Weltgeschehen in die richtige Richtung lenken. Sollten jedoch die ersten 11 Ziele auf der Grundlage konventioneller Wachstumsstrategien erfolgen, wäre es praktisch unmöglich, die Geschwindigkeit der globalen Erderwärmung zu reduzieren, die Überfischung der Ozeane oder die Landverschlechterung zu stoppen und dem Verlust der Biodiversität etwas entgegenzusetzen.
Es kommt also zu massiven Widersprüchen zwischen den sozioökonomischen und ökologischen Zielsetzungen und schließlich zu Rückkoppelungen.
Dass gut gemeint noch nicht gut gemacht bedeutet, zeigt ein symptomatisches Beispiel auf einer anderen Ebene. Trotz einer glaubhaft philanthropischen Einstellung, investierte die Bill und Melinda Gates Stiftung im Jahr 2007 massiv in Unternehmen, die Teil der globalen Problematiken sind. ²
Der Hauptursache liegt darin begründet, dass in den meisten philanthropischen Organisationen nur etwa 5 % des Vermögens den satzungsmäßigen Zielen zukommen, während der Rest in sogenannten Trusts verwaltet wird, um das Stiftungsvermögen zu erhalten. Im Falle der Gates Stiftung flossen so Gelder in ein Unternehmen, das für Aids Patienten unerschwingliche Medikamente verkaufte oder in den Kauf von 500.000 Monsantoaktien.³
Diese Widersprüche lassen sich bis zu jeder Einzelperson herunterbrechen. Für dieses Magazin bin ich per Flugzeug nach Sardinien geflogen (Flugverkehr gilt als ein Hauptverursacher von Co2 Abgasen), ich werbe für den Konsum von diversen Artikeln, kurbele mit meiner eigenen Agentur den Absatz dritter Unternehmen an und auf Fleisch kann ich auch noch nicht wirklich verzichten (Die Fleischindustrie gilt als eine der klimaschädlichsten Industrien überhaupt – Stichwort Co2, Wasserverschmutzung, Bodenverdichtung, vom Tierleiden durch Massentierhaltung ganz abgesehen). Gleichzeitig halte ich mich für verantwortungsbewusst und aktiv innerhalb meiner Möglichkeiten.
Ich möchte nicht vorenthalten, dass Weizsäcker in seinem Buch „Wir sind dran“, Ansätze zur Lösung diverser Probleme bietet und einige Beispiele aus der Wirtschaft gibt, bei denen ein Umdenken stattfindet. Bemerkenswerterweise zeigt er in einem Kapitel über Chinas Politik der „5 Jahres Pläne“, wie effizient die dortige Regierung Klimaschutz betreiben will. Ob ein chinesisches System dadurch besser wird und zum Vorbild taugt, weil es die ihm zugrunde liegende Effizienz für scheinbar positive Zielsetzungen einsetzt, sei einfach einmal zu hinterfragen. Ein Publikationstrend scheint auch zu sein, aufzeigen zu wollen, dass die Welt noch nie so gut war, wie sie dank Globalisierung und Digitalisierung geworden ist und sein wird. Das wird dann an Faktoren, wie Kindersterblichkeit, Lebenserwartung, Alphabetisierungsrate, medizinische Grundversorgung etc. festgemacht. Ich will kein Spielverderber sein, aber all diese Entwicklungen basieren eben genau auf konventionellen Wachstumsstrategien, deren Berechtigung mehr denn je infrage gestellt ist.
Laut dem griechischen Gelehrten Thukydides, den ich Ihnen im zweiten Kapitel vorgestellt hatte, folgt auf die Demokratie die Pöbelherrschaft, aus der dann eine Diktatur resultiert. An dieser Stelle laufen nun sämtliche Fäden zusammen, die Armin Nassehi als „Komplexität unserer Gesellschaft“ bezeichnen würde. Wir haben auf der einen Seite Wissenschaftler und Publizisten, die beobachten, analysieren und reflektieren, um daraus Szenarien und Handlungsansätze zu entwerfen. Andererseits haben wir das Volk, das die zunehmende Komplexität und die Veränderung der äußeren Welt als Bedrohung empfindet. An dritter Stelle haben wir geschaffene Strukturen, die beinahe automatisiert und aufgrund eigenständiger Gesetzmäßigkeiten ein stabiles System geschaffen haben (in einem Wort: Kapitalismus). Während zur tatsächlichen Lösung unserer Probleme hochkomplexe (im Sinne von einer Berücksichtigung diverser Auswirkungen und Rückkoppelungen verschiedener Aktionen) Maßnahmen nötig wären, sind diese für den Einzelnen nicht mehr nachvollziehbar und von seiner Alltagserfahrung völlig entrückt. Und während zur Problemlösung nicht nur ein nationaler, sondern gar ein internationaler Konsens Voraussetzung wäre, erleben wir auf nationaler Ebene eine Rückkehr zu populistischen Parteien, da deren Vertreter eine für den Einzelnen glaubwürdigere und nachvollziehbarere Position vertreten.
Ich kann an dieser Stelle natürlich nicht beantworten, inwiefern der Mensch „frei“ in seiner Handlung ist, inwiefern er als Gestalter seiner Welt „frei“ agieren kann. Mich beschleicht aber das Gefühl, dass die Fähigkeiten des Menschen viel mehr in seiner Anpassungsfähigkeit, als in seiner „Freiheit“ liegen. Anstatt, dass der Mensch die Welt bewahrt, nutzt er sie für seine Zwecke und immer dann, wenn sich die Welt dadurch ändert, passt er seine Verhaltensweisen an. Das heißt bevor wir z. B. unsere Artenvielfalt erhalten, passen wir uns daran an, ohne diese Vielfalt zu existieren. Bevor wir die Fruchtbarkeit unserer Böden erhalten und wieder herstellen, lernen wir unsere Nahrungsmittel in Labors und unter vollkommen kontrollierbaren Bedingungen herzustellen. Wir können anschließend behaupten, die Welt sei niemals so gut, da wir alle Menschen ernähren, aber zu welchem Preis und wie sieht die Welt dann aus?
Wir befinden uns mitten im Anthropozän, das Zeitalter, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse der Erde geworden ist. Denken Sie darüber nach, denn wenn wir überhaupt einen positiven Einfluss auf unsere Zukunft haben wollen, dann beginnt diese in unserem Kopf.
• Tobias Vetter
¹ Vereinte Nationen. 2015 Transformation unserer Welt: Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung A/69/L.85a
² C. Piller E. Sanders & R. Dixon 2007 „Dark clouds over good works of Gates Foundation“
³ GuruFocus 2010. Gates Foundation Buys Ecolab Inc., Goldman Sachs, Monsanto Company, Exxon Mobil Corp.
Literatur:
• Ernst Ulrich von Weizsäcker & Anders Wijkman „Wir sind dran“, Gütersloher Verlagshaus 2017, Random House GmbH
• Meadows, Dennis u.a. „Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit“, 1972, DVA
• Jared Diamond „Arm und Reich: Die Schicksale menschlicher Gesellschaften“, 2006, Fischer Taschenbuch
• Paul Kennedy „Aufstieg und Fall der großen Mächte“, 1991, Fischer Verlag
• Richard David Precht „Erkenne Dich selbst“, 2017, Goldmann Verlag, Random House
• Gernot Böme „Philosophieren mit Kant. Zur Rekonstruktion der Kanthischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie“, 1983,
Suhrkamp
• David Hume „Enquiry – Eine Untersuchung der Grundlagen der Moral“, 2003, Meiner
• Crawford B. Mcpherson „Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes zu Locke“, 1990, Suhrkamp
• Michael S. Aßländer „Adam Smith zur Einführung“, 2007, Junius
• Thukydides „Der Peloponnesische Krieg“, (Reclams Universal-Bibliothek) von Helmuth Vretska
• Werner Heisenberg „Der Teil und das Ganze“, 1996, Piper
• Niklas Luhmann „Soziale Systeme – Grundriß einer allgemeinen Theorie “, 1984, Suhrkamp
• Armin Nassehi „Gesellschaft verstehen. Soziologische Exkursionen“, 2011, Murmann Verlag