Der kürzeste Weg zu dir selbst führt einmal um die Welt.
Richard Hoffmann
Vielleicht verrät ja die Widmung für seine Frau jenes Geheimnis, warum einer mit nur 36 Jahren schon die halbe Welt gesehen hat: „Für Dagmar, bei der ich angekommen bin“, schreibt Thomas Bauer, nachdem er wieder einmal von großer Fahrt zurückgekehrt ist: „Frankreich erfahren – Eine Umrundung per Postrad“ lautet der Titel der jüngsten „Erfahrung“ in Buchform, die Bauer sich da im Wortsinne erarbeitet, erstrampelt hat.
Das ankommen Dürfen zu Hause, an einem festen Punkt der Ruhe, ist für den 36-jährigen gebürtigen Stuttgarter vermutlich genauso wichtig wie das losfahren Können: „Ich freue mich immer, wenn ich wieder heim komme“, sagt Bauer und klingt dabei so entspannt wie ein Pauschalurlauber, der sich nach 14 Tagen Abwesenheit um die Grashalm-Länge seines häuslichen Rasens sorgt. Thomas Bauer aber ist alles andere als ein klassisch buchender Tourist –
seine Reisen sind absolut außergewöhnlich, von der Dauer her sowieso, und was das Fortbewegungsmittel angeht, da könnte er es sich weiß Gott einfacher machen:
Mal ist er mit dem Liege-Fahrrad quer durch die Türkei unterwegs, mal radelt er „an den Rändern des Hexagons“ entlang, den meisten besser bekannt unter dem Namen „Frankreich“. Bauer reizte schon immer die eher ungewöhnliche Form des Reisens. Als Sohn einer Französisch-Lehrerin hatte er an seinem baden-württembergischen Gymnasium nicht nur Französisch als erste Fremdsprache, ins Nachbarland jenseits des Rheins führten auch die ersten weiteren Fahrten. „So ab 15, 16 Jahren war ich dann viel als Interrailer mit dem Zug unterwegs“, sagt Bauer über die frühen Jahre, als ihn das Fernweh und die Neugierde auf die weite Welt zu packen begonnen hatten. Mit 24 folgte dann das erste, wenn man so will. „planmäßige“ Abenteuer: Der Jakobsweg, von der Nordschweiz bis ins spanische Santiago de Compostela, Jahre vor dem großen Pilger-Hype, wohlgemerkt: „Da lernst du wirklich die verschiedensten Menschen kennen,“ berichtet der seit 2007 in Tutzing lebende Stuttgarter. Die einen machten sich damals als sportliche Wanderer auf diesen Weg, andere waren eher richtige Pilger. Man traf sich unterwegs, ging ein Stück gemeinsam, trennte sich wieder: „Nur für die Franzosen war ganz klar an der spanischen Grenze Schluss“, erinnert sich der Deutsche leicht amüsiert über die streng patriotische Auffassung der Wanderfreunde aus der Grande Nation. Thomas betrachtete die etwa 2.500 Kilometer lange Strecke als Stück Selbsterfahrung. Stempel der Übernachtungsherbergen im Pilger-Pass belegten, dass einer den langen Weg wirklich zu Fuß ge-meistert hatte und nicht etwa im bequemen Pkw. Nach der Jakobsweg-Erfahrung muss es den jun-gen Mann dann offenbar endgültig gepackt haben: Ein „Public Policy & Management“-Studium hatte er bereits erfolgreich absolviert, „aber ich wusste nicht so genau, was ich machen wollte“, beschreibt er die Situation am Scheideweg zwischen Karriere-Start und Sesshaftigkeit einerseits und Aufbruch zu buchstäblich neuen Ufern andererseits. Bauer entschied sich erst mal für den Aufbruch – mit dem Paddelboot die Donau abwärts: Genau wie Lothar-Günther Buchheim im Jahre 1938 lockte ihn das Abenteuer, sich von einem allmählich verändernden Fluss durch eine ebenfalls stetig wandelnde Landschaft bis ans Schwarze Meer tragen zu lassen. Buchheim kam per Faltboot seinerzeit bis Bukarest, ging dann weiter zu Fuß seinem Ziel entgegen und veröffentlichte 1941 den bis heute berühmten Klassiker „Tag und Nächte steigen aus dem Strom“.
Thomas Bauer aber blieb dem Fluss trotz gefährlicher Momente voller Wind und Wellen bis zum Meer treu: „Natürlich habe ich entlang der Donau auch viele Menschen getroffen“, erinnert er sich an manche intensive Begegnung. Zum Beispiel mit Sinti und Roma im Donaudelta: „Ich kam über eine Wiese daher gestapft, und die haben mir zu essen und zu trinken gegeben, mich in einem alten Wagen übernachten lassen“, sagt Bauer und fügt hinzu: „Es kommt darauf an, dass du den Menschen offen und ohne Misstrauen gegenüber trittst – dann behandeln sie dich genauso.“
Mit den vielen Reisen und den gemachten Erfahrungen formte sich auch Bauers Gespür für Menschen und Situationen:
Als er damals mit dem Liege-Rad bis zur syrischen Grenze fuhr, war er für die Türken Sensation und ständiges Foto-Objekt.
„Einer hatte von seinem Bruder schon ein Bild zu gemailt bekommen, und erkannte mich“, schildert Thomas die Aufregung, die ein Liegend-Radler zwischen Bosporus und Kurdengebiet auslöste. „Die Türken fahren nicht so gerne Fahrrad“, weiß Bauer, aber sie staunten und hielten respektvoll Sicherheitsabstand, als da einer zwischen all dem motorisierten Verkehr plötzlich in „Rückenlage“ aufkreuzte. Das Liege-Fahrrad stammte übrigens von einem schweizerischen Hersteller, den Bauer damals zwecks Sponsoring angeschrieben hatte. „Das ging völlig problemlos – die antworteten sofort, ich solle einfach kommen und das Rad abholen. Als Gegenleistung sollte ich nur ein paar Fotos schicken und von meinem Rad-Test berichten.“
Während die Beschaffung des fahrbaren Untersatzes damals vergleichsweise ruckzuck ging, war die Sache bei Bauers Rikscha-Tour durch Südostasien schon etwas aufwendiger: „Erklär´mal einem Zollbeamten in Laos, was die in zwei Kartons voraus geschickten Einzelteile zu bedeuten haben!“, deutet der Tutzinger die damaligen Schwierigkeiten an. Letztlich gelang es aber, auch den Zöllner von der „zivilen“ Absicht zu überzeugen – die Tour „Vientiane-Singapur“ (2010 in Buchform von Bauer nacherzählt) konnte anrollen, immer den Mekong entlang. Auf Fahrten wie diesen machte sich ein bestimmter Grundsatz des Abenteurers, der als Journalist auch schon mal im australischen Sydney gearbeitet hat, besonders bemerkbar: „Ich habe unterwegs noch nie irgendwas vorher fest gebucht.“ Soll heißen, Thomas lässt sich von keinem fixen Fahrplan das Tempo einer Reise diktieren – wenn etwas zum längeren Verweilen einlädt, dann bleibt er eben auch länger. Wohl nur auf diese Weise öffnet sich ein Mensch auch für die sinnlichen Erfahrungen, für den „Moment“ des Innehaltens. Bauer darf sich durchaus aus ein vom Augenblick Beschenkter betrachten:
„Einmal in Nord-Indien habe ich einen Schneeleoparden zu Gesicht bekommen.
Es war unvergesslich, er stand in schätzungsweise 60 Metern Entfernung plötzlich da, schaute in meine Richtung, dann zog er weiter“, erinnert sich der Weit- und Vielgereiste. Vielleicht hat ein Mensch solche einzigartigen Begegnungen auch nur dann, wenn man wie Thomas „etwas anders“ diese Welt erkundet. Hartnäckig sei er, sagt Bauer von sich selbst. Wenn er sich eine Herausforderung vorgenommen habe, ziehe er das meistens auch durch, auch gegen praktische Widerstände, vor denen andere wohl längst kapitulieren würden. Gewissen Freiraum von beruflicher Seite hat er sich zu bewahren verstanden – früher arbeitete er in Paris bei Greenpeace, heute fürs Goethe-Institut in München: „Da kann ich praktisch den ganzen Jahresurlaub am Stück nehmen, und hinterher auch mit Überstunden manches wieder rein arbeiten.“ Für längere Touren wie „2500 Kilometer zu Fuß durch Europa“, für Südostasien oder Südamerika braucht es schon jenes kostbare Gut, von dem die meisten Menschen behaupten, sie hätten einfach nicht genug davon: Zeit.
Der Umgang mit dem Begriff „Zeit“ ist vielleicht ein weiterer Schlüssel zum Ansatz des Thomas Bauer: Etwas wie eine Reise allzu gedrängt zu absolvieren, wäre im wohl ein Graus. Das In-sich-hinein-Horchen oder das Austesten der eigenen Grenzen fände dann gar nicht statt. Kommunizieren, notfalls „mit Händen und Füßen“, mit Blicken, wenn auch die Mehrsprachigkeit nicht mehr reicht. Bauer ist fit, im Kopf ebenso wie körperlich. Er sieht sich zwar nicht als Extremsportler, aber die physische Grundlage eines ehemaligen Leistungsschwimmers bringt er schon mit. „Ist hilfreich“, merkt er bescheiden an.
Könnte ja auch durchaus nützlich gewesen sein bei insgesamt drei Entführungsversuchen …
in Südamerika, gepaart mit dem erwähnten Gespür für „Situationen“: Bauer witterte rechtzeitig Unrat und wusste sich auch körperlich zu wehren, als man ihn in Bolivien in ein Auto zerren wollte. Man müsse kein Misstrauen oder gar Aggression ausstrahlen, sagt er – ein gewisses Bewusstsein um die eigenen Möglichkeiten genüge, das strahle man dann auch irgendwie aus. Die Physis kam dem Wahl-Tutzinger auch bei seiner aller-jüngsten Exkursion zugute:
Grönland bei minus 42 Grad Celsius schon zur „Begrüßung“.
Weil der Körper allein wegen der Kälte enorm viel Energie verbrauche (ganz zu schweigen von Bewegung in mehreren Kleiderschichten), „hat man bald wahnsinnigen Hunger auf Schokolade“ lautet Bauers mündlicher Bericht vorab. Das entsprechende Buch dazu soll 2013 erscheinen, es wird sein insgesamt sechstes werden, wenn alles gut geht. Er sei aber ein ziemlich disziplinierter Schreiber, da helfe wohl die „journalistische Schule“. Kleinere Verlage, so eine weitere Erfahrung beim Publizieren, legen sich eher ins Zeug als große, auch mit Werbung. Bauer hat seine Bücher bei verschiedenen Verlagen heraus gebracht, inzwischen hat er einen Namen auf dem Gebiet der „ungewöhnlich Reisenden“: Er ist keiner, der Strecken abspult, Rekorden nachjagt, auch wenn er schon mal guckt, was andere so machen und schreiben. Mit seinen gerade mal 36 Jahren strahlt er eine angenehme Offenheit aus, die Älteren manchmal schon abhanden gekommen ist. „Ich lasse mich auf Menschen und Augenblicke, auf Kulturen und Orte ein – man kann aus all dem etwas lernen für sein eigenes Weltbild, sich anschauen, „wie lösen die ihre Probleme“, sich Positives abschauen“, lautet so ein kluger, unprätentiöser Gedanke im Gespräch mit Bauer. Irgendwo könnte dieser Gedanke auch vom Philosophen Sayn-Wittgenstein stammen:
„Die Grenzen deiner Wahrnehmung sind die Grenzen deiner Welt.“
Bauers Wahrnehmung bei seiner ganz persönlichen „Tour der France“ war keineswegs aufs Herunterstrampeln von Rad-Kilometern beschränkt. So ganz nebenbei erzählt uns sein gut 275 Seiten starkes Buch (auf Musik-DVD gibt’s sogar eigene Lieder dazu!) uns staunend Daheimgebliebenen auch von der Sinnlichkeit der äußeren Landschaften und inneren Befindlichkeiten, von den unterwegs getroffenen Menschen, davon – „Ca bouge!“ – wo „was los ist“ und natürlich von der höchst abwechslungsreichen französischen Küche. Da ist einer immer wieder „en route“, der noch lange nicht alles „erfahren“ hat, der anscheinend ständig an sich arbeitet und hoffentlich noch oft aufbrechen wird. Einer, der gerne heim kommt, zum Pol seiner persönlichen Ruhe. Einer, der angekommen ist, um erneut aufzubrechen.
Thomas Lochte