Die Psychologiekolumne von Dr. Alexander Noll “Weitergänger”
„Who in the world am I? Ah, that´s the great puzzle.“
Lewis Carroll, – Alice in Wonderland –
Sie saßen sich gegenüber in hellbraunen Ohrensesseln in einem schummrigen herunter gekommenen Zimmer. Er sah sein Spiegelbild in Morpheus´ bügelloser Sonnenbrille, als dieser ihm in seinem schwarzen Ledermantel beide Arme mit geöffneten Handflächen entgegen streckte. In seiner rechten Hand lag eine rote Pille, in seiner linken eine blaue: „Alles, was ich dir anbiete, ist die Wahrheit. Nicht mehr.“.
Welche Pille würden Sie wählen? Die blaue lässt Sie alles glauben, was Sie glauben möchten. Die rote offenbart Ihnen die Wahrheit – nicht mehr. Vielleicht denken Sie jetzt, die berühmte Schicksalsfrage aus dem Film „The Matrix“ gehöre ja eh nur ins Reich des Science Fiction und lohne daher keine weitere Erörterung. Lassen Sie sich doch kurz auf das Gedankenspiel ein, dass Sie diese Wahl hätten. Kurz vor dem Moment der
Entscheidung fragt der Protagonist des Films, Neo, bereits, von welcher Wahrheit denn die Rede sei. Darauf lautet die Antwort: „Dass du ein Sklave bist.“.
Die Erkenntnis bzw. Fragestellung, die der Film „The Matrix“ aufgreift ist dabei natürlich nicht neu. Im Grunde genommen geht es um den Unterschied zwischen einem menschlichen Dasein, das sich durch sklavische Gefangenschaft in den immer gleichen indoktrinierten Glaubenssätzen ausdrückt und damit poetisch gesprochen letztlich ein seelenloses ist auf der einen Seite und dem Streben nach der Wahrheit, die die Seele befreit, auf der anderen Seite.
In den Schriften des Taoismus bezeichnet Lao Tse die seelenlose Variante des Menschen als „stroherne Opferhunde“. In unserem Kulturkreis findet sich der Jahrhunderte alte Volksglaube der Wiedergänger.
Dabei handelt es sich um Untote, die nicht zur Ruhe kommen und dem Grab entsteigen, da ihre Seele im Leben nicht erlöst wurde. Der Wiedergänger aus unserer Mythologie ist also der, der die blaue Pille nimmt, glaubt, was man ihm eingetrichtert hat, keine unbequemen eigenen Fragen stellt, immer wieder das Gleiche tut und keine Erlösung darin findet. Wie in der Mythologie leben die metaphorischen Wiedergänger unserer Zeit von den wahrhaft lebenden, „beseelten“ Menschen und rauben diesen letztlich die Lebensenergie. Möglicherweise ist es kein Zufall, dass gerade in den letzten Jahren mit Vampiren und Zombies zwei neuzeitliche Spezies von Untoten sich in Büchern und Filmen erheblicher Beliebtheit erfreuen. Vielleicht ist hier das kollektive Unbewusste am Werk und bringt die Tatsache zum Ausdruck, dass viele Menschen das Gefühl haben unter seelenlosen „Untoten“ zu leben.
Wie bringen wir es nun praktisch zustande als untote Wiedergänger wieder und wieder die blaue Pille zu schlucken?
Was lässt uns auf individueller Ebene das Althergebrachte, das Vermittelte und Übernommene, das immer Gleiche glauben, verteidigen und zementieren?
Der Philosoph Peter Sloterdijk schlägt als unheimlichen Vermittler die „Identität“ vor, die wir insbesondere in heutiger Zeit wie einen Götzen anbeten. Die Identität gibt uns Halt und schenkt uns das Selbstverständnis zu wissen, wer wir sind. Wer möchte das nicht in einer Welt, in der so Vieles unkontrollierbar und unvorhersehbar ist? Denn Unsicherheit macht Angst und die wiederum empfinden Viele als so unangenehm, dass sie auf jeden Fall vermieden werden muss. Doch Sloterdijk trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er aufzeigt, dass Identität letztendlich ein Sammelsurium „unrevidierbarer persönlicher und kultureller Trägheiten“ ist. Der klassische philosophische, religiöse oder auch humanistische Anspruch, durch Weiterentwicklung sein bestes Selbst hervor zu bringen wird in der Anbetung der Identität gleichsam auf den Kopf gestellt. Sloterdijk kommt zum Schluss, dass mit dem Pochen auf die eigene Identität somit quasi die Trägheit „von einem zu korrigierenden Mangel zu einem Wertephänomen“ erhoben und als „Ready-made mit Bewahrungsanspruch“ verklärt wird. Das persönliche Beharren auf der Trägheit der eigenen Identität ist sowohl individuell als auch global betrachtet das Ende der Hoffnung auf eine bessere Welt.
Denn diese kann nicht durch Predigen oder das Ausüben von Druck auf Andere entstehen, sondern nur durch die Arbeit an sich selbst.
Aber wie funktioniert sie nun im echten Leben, die rote Pille, die die Matrix aufbricht? Es geht um die Wahrheit. Allerdings nicht „unsere Wahrheit“, sondern die Wahrheit über uns. Also nicht das, was wir – nur allzu gerne – über uns glauben, sondern die knallharten Fakten, wer wir wirklich sind. Im Gegensatz zu dem, was wir glauben, bestehen diese Fakten vor allem aus dem, was wir tun. Und nicht tun. Helfen kann hier der Spiegel, den uns Andere vorhalten. Vor allem Menschen, die uns nicht nur sagen, was wir hören wollen. Ein weiterer Ansatz besteht darin zu erkennen, was wir als „untote Wiedergänger“ stur immer wieder tun.
Wir entwickeln uns weiter und „befreien unsere Seele“, dort wo wir zum Weitergänger werden. In „The Matrix“ trägt der Held Neo das Neue im Namen. Wirklich neu und weiterführend kann nur das sein, was nicht zu unserer Identität passt.
Wer keine Lust mehr hat auf das Sklavendasein in der Matrix und nur noch mit Mühe die Energie aufbringen kann sein mentales Gefängnis um zu dekorieren, der mache sich auf den unsicheren, mutigen Weg sich weiter zu entwickeln und sich durch die Wahrheit über sich selbst zu befreien.
Einen letzten Rat für diesen Weg gibt uns in „The Matrix“ zu Beginn der Reise die Figur mit dem vielsagenden Namen Trinity an die Hand: „Sei ehrlich.“.
Dr. Alexander Noll leitet als Psychotherapeut eine Privatpraxis in Berlin und gibt Seminare und Workshops in ganz Deutschland.