Dr. Noll schreibt – über die Aufschieberitis

eingetragen in: Kultur, N°17, Psychologie | 0
Psychotherapeut Dr. Noll im Seestyle Magazin
Psychotherapeut Dr. Noll im Seestyle Magazin

“Mach´ ich´s heut´ nicht, mach´ ich´s morgen

… auch nicht”

 

Schon seit einigen Jahren ist der Begriff „Prokrastination“ in aller Munde. Das Wort stammt vom lateinischen Verb „procrastinare“ ab und bedeutet soviel wie „auf morgen verlegen“, weshalb im deutschsprachigen Raum auch gerne von „Aufschieberitis“ gesprochen wird. Vor allem die Berichterstattung in den üblichen Massenmedien scheint sich regelrecht dabei zu überbieten, wie viel Prozent der Bevölkerung denn unter diesem Phänomen leide. So berichtete z. B. der Tagesspiegel kürzlich, dass „65% aller Studierenden“ davon betroffen seien. Die Freie Universität Berlin reagiert zum Beginn des aktuellen Wintersemesters sogar mit der Einrichtung einer Prokrastinationspraxis als Anlaufstelle. Aber auch in anderen Lebensbereichen und Bevölkerungsgruppen greift das notorische Aufschieben um sich: Briefe bleiben ungeöffnet und Rechnungen unbezahlt, die Wohnung müsste schon lange mal wieder geputzt und angesammelte Dinge ausgemistet werden – und von der Steuererklärung wollen wir gar nicht erst reden.

Aber handelt es sich bei der Prokrastination denn nun um eine Erkrankung unter der weite Teile der Bevölkerung leiden? Eine formale Antwort ist schnell gegeben, denn was eine offizielle Erkrankung ist, legt die Weltgesundheitsorganisation in ihrer „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“ (ICD) fest und dort findet sich nichts über Prokrastination. Für eine Erkrankung spricht, dass viele Menschen unter ihrer eigenen Aufschieberei leiden. Dagegen spricht allerdings die große Menge der Betroffenen (wie viele Menschen kennen Sie, die niemals etwas aufschieben?), die das Phänomen in den Rang der Normalität hebt. Schließlich ist Normalität ein statistischer Begriff und bedeutet zunächst nichts Anderes als „der statistischen Norm entsprechend“, also dass es bei den meisten Menschen so ist.

Prokrastination ist in diesem Sinne also ein normales menschliches Phänomen. Zudem handelt es sich nicht um eine Schwarz/Weiß-Angelegenheit wie bei einem Beinbruch: entweder ist der Knochen gebrochen oder eben nicht. Vom dysfunktionalen – also nicht hilfreichen oder zielführenden – Aufschieben und dessen negativen emotionalen und sozialen Konsequenzen kann man mehr oder weniger stark betroffen sein.

Es kann einen ein bisschen einschränken, ziemlich belasten oder total blockieren.

Das Phänomen Prokrastination ist jedoch nicht nur im statistischen Sinne normal, was inzwischen z. B. auch für die Häufigkeit von Übergewicht gilt. Prokrastination ist ebenfalls normal in dem Sinne, dass es der natürlichen Funktionsweise des Gehirns entspricht. Das Gehirn spricht von Natur aus auf schnelle, kurzfristige positive Konsequenzen an, auch wenn dies langfristige Nachteile mit sich bringt. Was eine positive Konsequenz ist, ist natürlich individuell verschieden, aber für viele Menschen sind Bier und Chips zunächst angenehmer als Rohkost und Grüntee, im Bett liegen bleiben angenehmer als zur Arbeit zu gehen oder Sport zu treiben und so ungefähr alles angenehmer als die Steuererklärung zu machen. Selbstverständlich wissen wir alle, dass gesunde Ernährung, Sport, Arbeiten und die Steuererklärung machen sinnvolle bzw. notwendige Tätigkeiten sind. Dies zeigt einmal mehr, dass Wissen alleine nicht viel hilft.

Dass das Gehirn „kurzfristig angenehm & langfristig unangenehm“ bevorzugt gegenüber „kurzfristig unangenehm & langfristig sinnvoll“ ist ein Naturgesetz an dem niemand etwas ändern kann. Die Fähigkeit kurzfristig Unangenehmes in Kauf zu nehmen um langfristig etwas Angestrebtes zu erreichen bezeichnet man auch als Selbstdisziplin. Wenn Sie so wollen ist dies eine „widernatürliche“ Fähigkeit, die man nur mühsam erlernen kann.

Traditionell wurde Selbstdisziplin im Grunde genommen mittels autoritärer gesellschaftlicher Strukturen mehr oder weniger erzwungen.

Ein Ausscheren aus den von Familie, Schule, Staat, Kirche und anderen Organisationen vorgegebenen Bahnen war mit erheblichen negativen Konsequenzen verbunden. So wurde der Teufel unangenehmer Pflichten mit dem Beelzebub noch unangenehmerer Strafen ausgetrieben.

Der zunehmende Rückgang autoritärer und hierarchischer Strukturen in allen Gesellschaftsbereichen hat nun dazu geführt, dass auf fehlende Selbstdisziplin kaum noch unmittelbare negative Konsequenzen („Strafe“) folgen. Im Gegenteil steht in Deutschland nahezu jedem Menschen sofortiger Bedürfnisbefriedigung (z. B. in Form von Konsumgütern, Freizeitaktivitäten oder Unterhaltungsmöglichkeiten) zur Verfügung, ohne sich dafür im Geringsten anstrengen zu müssen.

Wir sehen also vor allem in den kommenden Generationen Menschen heranwachsen, die praktisch keinem gesellschaftlichem Zwang zur Selbstdisziplin unterliegen und leichten Zugang zu kurzfristig positiven Vergnügungen haben. 

Diese Menschen dürften es schwer haben, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Bequemlichkeit zu ziehen um Ziele erreichen zu können, die Anstrengung oder die Inkaufnahme unangenehmer Gefühle (Langeweile, Angst, Frustration, Unlust) erfordern.

Allen Anderen, die nur unter leichten oder mittelschweren Formen des natürlichen Phänomens Prokrastination leiden und in gewissen Lebensbereichen durchaus über Selbstdisziplin verfügen seien folgende Tipps ans Herz gelegt:

Wenn Sie merken, dass Sie sich immer mehr Druck machen, je länger Sie etwas aufschieben und deshalb immer höhere Anforderungen an sich stellen, machen Sie sich klar, dass dies ein Teufelskreis ist, den Sie nur durchbrechen können, indem Sie die Latte tiefer legen. Am besten so tief, dass Sie nicht mehr darunter durchkriechen können.

Machen Sie sich klar, dass es eine Illusion ist, dass es Ihnen durch Aufschieben irgendwann leichter fallen wird. Nehmen Sie Ihre Unlust, Angst, Langeweile, Frustration – oder welches Gefühl auch immer beim Angehen der Aufgabe entsteht – bewusst in Kauf. Es gibt keinen Weg darum herum.

Führen Sie sich vor Augen, für welches langfristige positive Ziel Sie das alles auf sich nehmen. Haben Sie kein motivierendes Ziel, sind Ihre Chancen gering.

Wenn das alles nicht hilft, wenden Sie sich an den Psychotherapeuten Ihres Vertrauens oder freunden Sie sich mit Ihrer Bequemlichkeit an und halten Sie es mit Leibniz, der Ehrgeiz für eine Form des Irrsinns hielt.

www.dr-alexander-noll.de