“Es gibt keine Probleme” Eckhard Tolle
Ist der Mann verrückt? Probleme soll es gar nicht geben? Das mag vielleicht für Herrn Tolle gelten, der als Autor spiritueller Bücher Millionen verdient hat und nun gesund und munter mit seiner Frau seinen Reichtum genießt. Aber der Rest von uns hat ja wohl jede Menge Probleme: Geldprobleme, Gesundheitsprobleme, Beziehungsprobleme um nur ein paar zentrale Bereiche zu nennen. Ganz zu schweigen von den alltäglichen Problemen im Straßenverkehr, mit der Ernährung, den Kommunikationsproblemen in der Familie, am Arbeitsplatz oder generell mit anderen Menschen und natürlich bei der Erziehung der Problemkinder.
Lassen Sie uns unsere Gewissheit, dass wir Probleme haben, mal für einen Moment beiseite legen und möglichst unvoreingenommen schauen, was mit dieser Aussage überhaupt gemeint sein könnte. Was verstehen wir eigentlich unter einem Problem? Wenn wir genau hinschauen, stellen wir fest, dass es sich dabei um Situationen (also äußere Umstände) oder Zustände (also inneres Erleben: Körperwahrnehmungen, Gefühle und Gedanken) handelt, die wir negativ bewerten. Diese Situationen und Zustände erleben wir also z. B. als unangenehm, unbefriedigend oder in dem Sinne als falsch, dass wir in einer anderen Situation oder in einem anderen Zustand sein wollen. Ebendiese ungewollten Situationen und Zustände bekommen dann das Etikett „Problem“.
Diese Art der Etikettierung ungewollter Situationen und Zustände als „Probleme“ ist natürlich in unserer Gesellschaft weit verbreitet, so dass man erst einmal in guter (d. h. großer) Gesellschaft ist, wenn man dies auch tut. Dass es praktisch alle tun bedeutet allerdings nicht, dass diese Art der Etikettierung überhaupt notwendig, geschweige denn hilfreich ist. Nun, notwendig ist die Etikettierung nicht, denn wir könnten auf der beschreibenden Ebene verbleiben und von Situationen und Zuständen sprechen, die wir uns anders wünschen würden, die aber nun mal im Moment nicht anders sind. Und hilfreich scheint mir die Bezeichnung „Problem“ auch nicht zu sein, da sie impliziert, dass wir nach einer Lösung suchen müssen. Für viele sogenannte „Probleme“ gibt es aber gar keine Lösungen und so wird die scheinbare Suche nach der Lösung zur sinnlosen Grübelei und endlosen, belastenden Problemwälzerei.
Was soll das heißen, dass es für viele „Probleme“ gar keine Lösungen gibt? Schauen wir zurück auf unsere eingangs festgelegte Definition von „Problemen“: Situationen oder Zustände, die uns aus irgendeinem Grund missfallen und die wir uns anders wünschen würden. Während gemeinhin geglaubt wird, dass bestimmte Situationen und Zustände per se schon „Probleme“ darstellen, ist das eigentliche Element der Definition, das aus einer Situation oder einem Zustand ein Problem macht vielmehr der Fakt, dass wir erwarten/verlangen/wünschen, dass es anders wäre. Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch schon aufgefallen ist, aber: Das Leben ist kein Wunschkonzert.
Niemand wünscht sich Krankheit, Alter, Verlust, unangenehme Körperempfindungen und Gefühle oder etwas weniger dramatisch das Unverständnis von Mitmenschen, schreiende Kinder oder schlechtes Wetter.
Aber all dies und noch viel mehr gehört nun mal zwangsläufig zum Leben dazu. Nur weil wir es nicht mögen oder uns nicht wünschen würden all dies zum „Problem“ zu erheben ist in zweierlei Hinsicht nicht sonderlich sinnvoll.
Zum einen hieße es, das Leben selbst zum „Problem“ zu erklären – viel Spaß mit dieser Sichtweise – und zum anderen gaukelt es wie bereits gesagt vor, dass es für die erwähnten ungewünschten Aspekte Lösungen, also Alternativen, gäbe.
Der ein oder andere mag an der Stelle einwenden, dass es trotz allem aber auch Situationen und Zustände gäbe, die sehr wohl änderbar seien, für die es also Alternativen oder meinetwegen auch „Lösungen“ gäbe. An der Stelle möchte ich das an praktischer Lebensweisheit nicht zu überbietende „Gelassenheitsgebet“ von Reinhold Niebuhr zitieren: „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“
Der erste Schritt verbirgt sich hierbei natürlich im letzten Satz, nämlich der Unterscheidung von Veränderbarem und Unabänderlichem. Ich kann Ihnen nur empfehlen sich für diesen Schritt Zeit zu nehmen und sich selbst zu fragen und ehrlich zu antworten, ob etwas veränderbar ist oder nicht. Die gesellschaftliche Meinung ist hier nicht unbedingt ein guter Maßstab! Im Falle des Unveränderbaren ist Akzeptanz gefragt. Dies bedeutet nicht, dass sie es mögen müssen, sondern nur, dass sie aufhören sich dagegen zu sträuben, dass es so ist. Im Falle des Veränderbaren überlegen Sie, was ihr konkreter nächster Schritt sein könnte. Dann gehen Sie den Schritt oder Sie gehen ihn (in diesem Moment) nicht. Dann sind aber auch keine weiteren Überlegungen notwendig.
In beiden Fällen entsteht kein gedankliches „Problem“, mit dem Sie sich sinnlos beschäftigen und belasten. Also, wenn Sie das nächste Mal glauben, Sie hätten ein „Problem“, stellen Sie sich folgende zwei Fragen: ist das was mich stört veränderbar? Falls nicht, können Sie sich jede weitere Beschäftigung damit getrost sparen. Falls ja, fragen Sie sich was Sie jetzt in diesem Moment konkret tun können um die Situation zu verändern. Fertig. Mehr ist nicht zu tun. Ihr Verstand hat frei, aber rechnen Sie damit, dass er die liebgewonnenen „Probleme“ vermissen wird.
Vielleicht ist Herr Tolle also doch nicht so verrückt.
Dr. Alexander Noll leitet als Psychotherapeut eine Privatpraxis in Berlin und gibt Seminare und Workshops in ganz Deutschland.