Ist das Liebe?
Wundern Sie sich manchmal nicht auch, warum es manche Pärchen überhaupt miteinander aushalten?
Der neutrale Beobachter sieht zwei Menschen, die sich – mehr oder weniger subtil – beschimpfen oder auf andere Arten abwerten, bloßstellen, beschämen, mit diesem oder jenem drohen, den anderen am ausgestreckten Arm emotional verhungern lassen, sich anschreien und in nicht wenigen Fällen sich sogar körperlich attackieren. Als wäre es noch nicht verblüffend genug, dass sich jemand so etwas überhaupt freiwillig antut, bleibt dem Unbeteiligten dann vollends die Spucke weg, wenn er die Begründung für solch mäßig erquickliche Verhaltensweisen zu hören bekommt: „Ich liebe ihn/sie halt.“
Wie kann das sein? Verständlich wird das Ganze erst, wenn man sich klar macht, welcher Mechanismus hier am Werke ist. Wie so häufig, wenn wir Erklärungen für unser Verhalten suchen, müssen wir dafür zurück reisen in unsere Kindheit. Wenn wir klein sind, besteht unsere ganze Welt zunächst einmal nur aus unseren Eltern und eventuell noch Geschwistern. Und da wir nichts Anderes kennen, ist alles was wir in der Kindheit erleben per definitionem „normal“, egal wie schlimm es auch sein mag – und niemand erlebt nur Schönes.
Nicht nur ist jedwedes elterliche Verhalten für das Kind Normalität, vielmehr wird alles was die Eltern tun im sich entwickelnden Gehirn des Kindes gleichgesetzt mit „Liebe“.
Denn die einzige Alternative zu der Formel „was immer meine Eltern tun ist ein Ausdruck von Liebe“ wäre die Schlussfolgerung „meine Eltern lieben mich nicht“. Und letzteres ist für jedes Kind unmöglich zu denken, da existenz-bedrohlich.
Wie kommen wir nun aus dieser Nummer heraus?
Zunächst können wir uns klarmachen, welches Gefühl wir als „Liebe“ bezeichnen und beobachten, wann es auftaucht. Dann können wir darauf achten, welches Verhalten unseres Gegenübers dieses Gefühl ausgelöst hat. Wenn sich hier einige der eingangs aufgezählten Verhaltensweisen finden, ist Skepsis angezeigt. Gefühle, die häufig mit „Liebe“ verwechselt bzw. gleichgesetzt werden, sind z. B. Verletztheit, Unter- oder Überlegenheit, Scham oder Angst (vor Einsamkeit).
Wenn wir dies erkannt haben, sehen wir hoffentlich auch die Parallelen zu unserer Kindheitssituation, die unser Gehirn größtenteils unbewusst re-inszeniert hat.
Den Absprung schaffen wir schließlich, wenn wir bereit sind, vertraute alte Gefühle und Situationen loszulassen und uns endlich auf einen tatsächlichen liebevollen Umgang in unserem Verhalten zu konzentrieren. Jemanden zu lieben ist kein flüchtiges Gefühl, das heute da ist und morgen fort, sondern ein Tun.
Dr. Alexander Noll leitet als Psychotherapeut eine Privatpraxis in Berlin und gibt Seminare und Workshops in ganz Deutschland.
www.dr-alexander-noll.de