Dr. Noll schreibt – Warum nur “warum”?

eingetragen in: Kultur, N°16, Psychologie | 0

 

 

Unser Gehirn ist darauf trainiert Erklärungen zu liefern. Das ist grundsätzlich eine sehr hilfreiche Angelegenheit. Wir beobachten Zusammenhänge in unserer Umwelt und leiten daraus wiederkehrende Muster ab um schließlich Vorhersagen über zukünftige Ereignisse abzuleiten. Man kann sich leicht vorstellen, wie unsere Vorfahren zum Beispiel den Verlauf des Wetters beobachtet haben um dessen Zyklen vorhersagen zu können und so effiziente Landwirtschaft betreiben zu können. Eine geradezu lebensnotwendige Maßnahme, die das Leben inmitten allerlei unvorhersehbarer Gefahren wie wilden Tieren oder Naturereignissen etwas kontrollierbarer und damit sicherer gestaltet hat.

 

Im Verlauf der Menschheitsgeschichte entwickelten sich nun verschiedene Systeme diesem Kontrollbedürfnis gerecht zu werden. Die ersten Erklärungen, warum dieses oder jenes geschieht, lieferten allerlei Naturgötter, deren Zuständigkeit eben darin bestand, diese Dinge geschehen zu lassen. Diese Götter wiederum konnten beeinflusst (bzw. kontrolliert) werden durch Opfergaben. Funktionierte dies nicht, hatte man eben zu wenig geopfert. Als sich größere Menschenmengen zu Städten und Nationen zusammen schlossen, traten vereinheitlichte Götter auf den Plan, die genaue Regelwerke erließen, wie man sich zu verhalten habe damit es einem gut ergehe. Ging es einem nicht gut, hatte man sich eben nicht streng genug an die Regeln gehalten.

 

Über die Jahrhunderte und Jahrtausende blieb es nicht aus, dass sich die Beobachtungsgabe und die Beobachtungsmethoden des Menschen immer weiter verfeinerten und globale Antworten auf die Warum-Frage („Weil Gott es will.“) ebenfalls immer komplexeren und detailreicheren Antworten wichen (z. B. „Wegen der Schwerkraft.“; „Wegen der Photosynthese.“), die wir als Wissenschaft bezeichnen. Nun hat diese Wissenschaft unbestritten zu vielen Errungenschaften beigetragen, die uns das Leben angenehmer und auch kontrollierbarer machen. Wer will schon ohne Kühlschrank oder Zentralheizung leben? Gleichzeitig hat „die Wissenschaft“ aber auch die Illusion verstärkt, dass Alles kontrollierbar sei, wenn man nur die endgültige Antwort auf die großen Warum-Fragen gefunden hätte und somit Alles erklären könne, was nur eine Frage der Zeit sei.

 

Hier scheint mir eine gewisse Skepsis angebracht. Trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnisse haben wir keine Ahnung wie das Wetter nächste Woche wird, was denn nun eine gesunde Ernährung ist oder wie alt wir wohl werden um nur einige zu nennen. Ganz zu schweigen von der Frage warum es Etwas gibt und nicht Nichts. Es mag jeder für sich selbst entscheiden, ob die Antwort „wegen des Urknalls“ irgendein Informationsplus enthält gegenüber der Antwort „wegen Gott“.

 

Was will uns dieser Schweinsgalopp durch die Menschheitsgeschichte sagen? Sicherheit und Kontrollierbarkeit sind menschliche Grundbedürfnisse. Daher sind wir alle bestrebt für alles immer eine Erklärung parat zu haben, also eine Antwort auf die Warum-Frage. Warum ist mir schlecht? Weil ich gestern zu viel Alkohol getrunken habe. Warum habe ich gestern zu viel Alkohol getrunken? Weil ich mich ohne Alkohol auf der Party unsicher gefühlt habe. Warum habe ich mich auf der Party unsicher gefühlt? Weil ich ein geringes Selbstwertgefühl habe. Warum habe ich ein geringes Selbstwertgefühl? Weil meine Mutter mir nie etwas zugetraut hat. Warum hat mir meine Mutter nie etwas zugetraut? – Sie sehen vielleicht wo das hinführt. Im Zweifelsfall bis zum Urknall, oder Gott, je nach Ihrer persönlichen Vorliebe.

Nun gibt es in der Psychologie und Psychotherapie Ansätze, die versuchen eine möglichst detaillierte und umfassende Antwort auf die Frage zu finden, warum Sie eine ungünstige Verhaltensweise zeigen (z. B. „warum trinke ich zu viel Alkohol“; „warum bleibe ich bei einem Partner, der mir nicht gut tut“; „warum mache ich einen Job, den ich hasse“). Die theoretische Idee dahinter lautet: wenn Sie erst genau wissen warum Sie etwas tun, dann führt diese Erkenntnis dazu, dass Sie es lassen. Diese Vorstellung ist aus zwei Gründen problematisch. Erstens lässt sich, wie wir gerade gesehen haben, keine sinnvolle abschließende Erklärung für ein bestimmtes Verhalten finden. Es lassen sich lediglich beliebig komplexe Erklärungsgebäude erstellen. Den zweiten Aspekt möchte ich Ihnen mit einem Gedankenexperiment näher bringen: stellen Sie sich vor, Sie erhalten von einer allwissenden Instanz einen zusammen gefalteten Zettel, auf dem der letztendliche Grund bzw. die Ursache für Ihr Verhalten steht. Sie brauchen keine Energie und Zeit mehr in die Suche nach der Antwort zu stecken. Was nun?

 

Sie sehen, dass die allgegenwärtige Frage des Menschen nach dem „Warum?“ ihre eigene Geschichte hat und für viele praktisch-technische Fragestellungen auch hilfreich ist um zu einer Lösung zu kommen. Für viele wichtige Dinge im Leben, z. B. warum Sie ein bestimmtes Verhalten zeigen oder in einer unangenehmen Situation verbleiben, ist die Warum-Frage aber schlicht und ergreifend nicht zu beantworten. Da es keine abschließende Antwort gibt, ist häufig die unendliche Beschäftigung mit der Warum-Frage genau das, was Sie von einer Lösung abhält.

 

Auch wenn seit Jahrzehntausenden die Wichtigkeit der Warum-Frage in die Gehirne der Menschheit eingebrannt ist und Sie es kaum glauben können, die gute Nachricht lautet: Sie brauchen keine Antwort auf die Warum-Frage um an Ihrem Verhalten oder Ihrer Situation etwas zu ändern. Sie brauchen vielleicht Unterstützung und Strategien, aber Sie brauchen nicht zwingend eine komplexe Erklärung, warum es dazu gekommen ist, bevor Sie etwas daran ändern können.

 

Noch pointierter bringt es der zeitgenössische russische Autor Viktor Pelewin auf den Punkt: „Wenn du am Arsch bist, hast du zwei Möglichkeiten. Entweder du versuchst rauszukriegen, wieso du am Arsch bist. Oder du siehst zu, dass du wegkommst von da. Manche Leute, mitunter auch ganze Völker machen den Fehler und denken, diese beiden Verrichtungen hingen irgendwie zusammen. Dem ist nicht so. Und vom Arsch zu springen ist bei weitem einfacher als zu verstehen, wie man drangekommen ist.“

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