Kennen Sie Platos Höhlengleichnis? Es beschreibt – in etwas verkürzter Form – den normalen Menschen als in einer Höhle sitzend. Zusätzlich ist er auf eine Art und Weise gefesselt, dass er mit dem Rücken zum Höhleneingang sitzt und sein Blick ausschließlich auf die Höhlenwand fällt, die dem Eingang gegenüber liegt. Von den tatsächlichen Dingen, die sich außerhalb der Höhle befinden, weiß und ahnt der so gefesselte Mensch nichts. Alles was er sieht, sind die Schatten, die die Dinge auf die Höhlenwand werfen, die sich vor dem Höhleneingang im Sonnenlicht befinden. Da er jedoch nichts anderes sieht und kennt als diese Schatten, hält er sie für die einzig existierende Realität. Er entwickelt Theorien über das Verhalten der Schatten und ganze Wissenschaften zur Untersuchung der Schatten und merkt doch nicht, dass diese Schatten nur ein Abklatsch der Realität sind.
Schlimmer noch, sollte er jemals aus seinen Fesseln befreit werden, sich umkehren und ins Sonnenlicht am Höhleneingang schauen, so wird er geblendet sein. Da das blendende Sonnenlicht zunächst schmerzhaft ist, werden die meisten Menschen sich erschrocken wieder in die Höhle begeben und sich den altvertrauten Schatten widmen. Dieser Text handelt von der Befreiung aus den Fesseln. Die Haftung für mögliche Risiken durch die Blendung von Sonnenlicht werden vom Autor abgelehnt.
Die Verwechslung der tatsächlichen Dinge mit den Schatten steht hierbei im weitesten Sinne dafür, dass wir unsere subjektiven Interpretationen der Welt mit der Realität verwechseln, ohne dies überhaupt zu bemerken. Für uns alle gilt außerdem zunächst, dass unsere Interpretationen noch nicht einmal unsere eigenen sind, sondern übernommene Interpretationen, Sichtweisen, Einstellungen unserer Eltern, Großeltern, Lehrer oder allgemein der Gesellschaft und des Umfeldes, in dem wir aufgewachsen sind.
Wenn Sie zum Beispiel nur dann Zuneigung von Ihren Eltern bekommen haben, wenn Sie „die Beste“ waren , dann blieb Ihnen nichts anderes übrig, als die Welt so zu interpretieren, als ob sie dieser Regel folgt: „Ich muss immer die Beste sein, sonst werde ich nicht gemocht.“. Was Sie damals nicht sehen konnten und vielleicht bis heute nicht sehen ist, dass Ihre Schlussfolgerung nur auf einem kleinen Ausschnitt der Welt beruht und Ihre abgeleitete Regel keine Allgemeingültigkeit besitzt. Sehr viele Menschen, die nicht die Besten sind, werden gemocht.
Normalerweise sind wir uns unserer gelernten Interpretationen, Sichtweisen und Regeln noch nicht einmal bewusst und dennoch steuern sie unser Verhalten in wichtigen Lebensbereichen. Das muss nicht grundsätzlich schlecht sein, aber viele fühlen sich unter Druck gesetzt und in ihrer Entfaltung eingeschränkt durch das, was sie angeblich tun oder lassen müssen.
Der böse Unterdrücker wird dabei häufig in der Außenwelt vermutet (der Chef, der Partner, die Eltern, die Gesellschaft), dabei sitzt der eigentliche
Diktator in Ihrem Kopf.
Ihre eigenen Gedanken in Form von gelernten Interpretationen, Überzeugungen und Regeln üben einen unablässigen Druck auf Sie aus, was Sie zu tun und zu lassen haben – und die meisten sind sich dessen nicht ansatzweise bewusst.
Hier ist auch der erste Ansatzpunkt, sich von diesem Druck zu befreien: werden Sie sich des Diktators im Kopf bewusst. Das nächste Mal wenn Sie sich gehetzt, belastet oder unter Druck gesetzt fühlen, achten Sie mal darauf, welche Gedanken Ihnen gerade durch den Kopf gegangen sind. Achten Sie in Ihren Gedanken vor allem auf die Schlagwörter „müssen“, „sollen“ und „nicht dürfen“. Wann immer eines davon auftaucht, sollten Sie skeptisch sein.
Wenn Sie eine solche innere Regel ertappt haben, können Sie den Druck reduzieren, indem Sie die Wörter „müssen“ und „sollen“ in Ihrer Regel durch das Wort „wollen“ ersetzen. Geht Ihnen z. B. durch den Kopf „Ich muss immer die Beste sein.“ dann sagen Sie sich mal den Satz „Ich will immer die Beste sein.“ und schauen Sie mal wie sich das anfühlt und ob der Satz dann immer noch stimmt. Ähnliches gilt für Regeln, die ein „nicht dürfen“ enthalten. Streichen Sie in Gedanken hier einfach mal das „nicht“. So wird aus: „Ich darf nichts sagen, was meine Mutter verärgert.“ der Satz „Ich darf etwas sagen, das meine Mutter verärgert.“.
Alles was wir tun oder lassen hat natürlich Konsequenzen, die sicher immer abgewägt werden sollten. Doch das „müssen“, „sollen“ und „nicht dürfen“ im Kopf gaukelt uns vor, dass wir gar keine Alternativen hätten und nur Spielbälle äußerer Mächte wären. Allein die Bewusstmachung, dass wir immer eine Wahl haben und aufgrund der vermuteten Konsequenzen immer noch für uns die subjektiv beste Alternative auswählen, kann den gefühlten Druck reduzieren und Ihnen ein stärkeres Gefühl von Urheberschaft für Ihr Leben verleihen.