Das scheinbar unscheinbare Pilsen ist neben Mons Kulturhauptstadt 2015

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Pilsen – die versteckte Stadt

 

Pilsen. Bier, Skoda und vielleicht noch die einst berühmten tschechischen Puppenspieler. Mehr fällt den Wenigsten zu Tschechiens viertgrößter Stadt ein. Dabei steckt Pilsen voller Überraschungen. Sogar Engel wirken hier.

 

Pilsen war jahrzehntelang eine „graue, schmutzige Industriestadt“, erzählt Oberbürgermeister Martin Baxa. Der entspannt wirkende ehemalige Geschichts- und Geografielehrer, mit dem Drei-Tage-Bart im runden Gesicht, will seiner Stadt ein neues Image verpassen: Kunst, Kultur, kreativ.

Zwei Strassenbahnstationen außerhalb des Zentrums liegt der Südbahnhof. Die quietschgelbe Bahn, made in CSSR, gleitet vorbei an der Großen Synagoge, deren Türme mit den beiden goldenen Davidsternen das Stadtzentrum überragen, passiert das moderne allerweltsgleiche Einkaufszentrum und Reihen grauer Häuserzeilen. Es geht vorbei an vierstöckigen Jugendstil-, verschnörkelten und klassizistischen Fassaden – manche frisch saniert, andere noch im rohen, realsozialistischen Einheitsgrau. Ein Stilmix aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert.

Mit Handel und Industrie ist Pilsen reich geworden: Maschinenbau, Metallindustrie und eine der größten Brauereien der Welt. 1842 brachte ein bayerischer Braumeister seine Handwerkskunst nach Böhmen. Der Betrieb wuchs zum Großunternehmen Pilsener Urquell heran. Die Stadt lieferte den Namen für die untergärige Biersorte Pilsener, kurz Pils. Lecker schmeckt die ungefilterte, naturtrübe, nicht pasteurisierte Variante: Ein bronzefarbenes, hefehaltiges Bier, das die Brauereibesucher frisch vom Fass serviert bekommen. Weil es nach zwei, drei Tagen verdirbt, bekommt man es nur in der Brauerei und einer Altstadt-Kneipe.

Kunst im Bahnhof

An den rohen Wänden des alten Südbahnhofs hängen Fotos in allen Größen. Durch die Gänge hallen Hammerschläge. In einem dunklen Raum werkelt ein 29-jähriger mit kahlgeschorenem Kopf und Stoppelbart: Lukasch Houdek klebt seine Din-A-3 großen Schwarz-Weiß-Bilder auf die nackten Wände. Auf den etwas unscharfen Fotografien posieren scheinbar verkrüppelte Gestalten mit schwarzen Gesichtern vor verfallenen Häusern im Böhmerwald. Eine verkrümmte Frau holt Wasser aus einem Brunnen. Fotograf Lukasch hatte für die gruselige Serie Freunde verkehrt herum in Trachten gesteckt, die ihm Vertriebene geliehen haben.

Er ist in einem Haus aufgewachsen, das einst Böhmen-Deutschen gehörte. Auf seine Fragen nach der Geschichte erhielt er ausweichende Antworten:

„Meine Oma wusste viel aus dem Krieg“, erzählt der Fotograf.

„An die Jahre danach konnte sie sich nicht erinnern“.

So fing Lukasch an, nachzuforschen, durchsuchte das Internet und tschechische Archive. Was er fand, entsetzte ihn: Dokumente über Massaker an Zivilisten.

Er verstehe die Wut der Menschen nach den Verbrechen der Besatzer. „Aber das rechtfertigt nicht die Morde an Unbeteiligten.“ Mit seinen Bildern will er zeigen, dass „wir alle zu Mördern werden können.“

Beliebt macht er sich damit in Tschechien nicht. In E-Mails und Briefen beschimpften ihn Landsleute als Verräter und von Deutschen bezahlten Geschichtsfälscher.

Bekannt geworden ist Houdek mit seiner Bilderserie „The Art of Killing“. Darin hat er Massaker an deutschen Zivilisten in Böhmen mit Barbiepuppen nachgestellt und fotografiert. Viele Zeitungen, darunter die „Süddeutsche“, berichteten darüber. Im Herbst startet er sein nächstes Projekt. Mit einer Kollegin will er zeigen, dass sich die Schicksale der heute so unbeliebten Flüchtlinge wenig von denen damals unterscheiden. Die warme Stimme des Fotografen lässt die Fotos in dem dunklen kalten Raum noch bizarrer und brutaler wirken.

1998 zogen die ersten Künstler in das halb verfallene, unbeheizte Nebengebäude des Südbahnhofs. Sie richteten in den mehr als 100 Jahre alten Jugendstil-Bauwerk Ateliers und Probenräume ein. Auf der Bühne in der ehemaligen Bahnhofshalle spielen Theatergruppen und Tanz-Ensembles. „Wir verbinden „Art and Education“, Kunst mit Bildung, berichtet Roman Cernik in der Kneipenstube des Kulturzentrums.

Über der selbstgebauten Theke hängt das ausgediente schwarz-weisse Bahnhofsschild. Die Gäste sitzen auf alten Stühlen, die Unterstützer dem „Johan“ gespendet haben.

Roman, Jahrgang 63, kräftig und bärtig, hat das Kulturzentrum 1998 mitgegründet. „Hauptsächlich machen wir experimentelle Projekte, die verschiedene Kunstrichtungen verbinden. In der als verschlafen-konservativ verschrienen Provinzstadt habe sich das „Johan“ seinen Platz erkämpft. „Der Bürgermeister unterstützt uns. Mit der Europäischen Kulturhauptstadt planen wir Projekte“, freut sich Cernik.

In der Stadt werben Plakate und Fahnen für Pilsens Auftritt als Kulturhauptstadt Europas im kommenden Jahr.

Einige ihrer Manager sind wie Außerirdische aus höheren Sphären kultureller Abstraktion ins Böhmerland gefallen.

Intellektuelle – die meisten aus der Hauptstadt Prag – wie der künstlerische Leiter des Programms Petr Forman.

Unter dem Motto „Open Up“ will der Sohn des Regisseurs Milos Forman mit seinem Team die Pilsener und ihre Besucher mit „leicht zugänglichen Angeboten auf hohem Niveau“ begeistern: Zirkus ohne Tusch und Tiere, ein Auftritt bunter Riesenfiguren der Compagnie Royal de Luxe aus Nantes, ein barocker Musiksommer in verfallenen Land-Kirchen, ein interaktives Riesenkarussell aus Paris, das auf dem Hauptplatz gastieren wird. Das Programm sieht er „an der Nahtstelle zwischen Attraktion und Kunst.“

„Die Pilsener“, sagt Forman, „warten ab, aber wenn sie das Programm sehen, werden sie mitmachen.“ Der Künstler betreibt mit seinem Bruder das international bekannte „Forman Brothers Theatre“. Pilsen kennt er seit Kindertagen. Pilsen will eine Kulturhauptstadt zum Mitmachen werden. Jakub Deml leitet das Programm „versteckte Stadt“. Mit seinem Team arbeitet er an einheimischen Charakteren, die Besuchern in Handy-Apps die Stadt aus ihrer Sicht nahebringen sollen: der Brauer, der das Pilsener Urquell erfand, ein Arbeiter der Skoda-Werke, ein Künstler oder ein zwölfjähriges Mädchen. Das Ziel: Die Figuren führen Touristen in Viertel, deren Bewohner sie in Empfang nehmen und sie in ihren Alltag einladen. Das Geld dafür kommt nicht nur aus dem 420 Millionen Kronen (rund 15 Mio.€ / 18 Mio. Franken) -Budget der Kulturhauptstadt.
Über die Internet-Plattform everfund.cz sammeln die Projektplaner Unterstützung. „Ein Jahr lang haben wir weltweit Crowdfunding-Seiten untersucht“, erzählt Manager Ondrej, ein 36jähriger mit Fusselbart und Hipsterbrille. Eine bunte Kinderzeichnung ziert die Klappe seines MacBooks. „Das war meine Tochter“, erzählt der junge Papa. Er hat Kulturmanagement in Leeds studiert. Das Besondere an everfund: Die Betreiber beraten Leute, die dort ihre Projekte einstellen wollen und begleiten sie über die Startphase hinaus. „Wer beim Bühnenbau mit anpacken will, oder ein Auto verleihen kann, ist genauso willkommen wie ein Spender.“

„Entscheidend für den Erfolg sei die Belohnung, die die Initiatoren auf der Plattform anbieten. „Die Menschen wollen einmalige Erlebnisse und die Projekte mitgestalten. So sammeln derzeit Leute Unterstützung, die eines der vielen zubetonierten Flussufer renaturieren möchte. Denen schlägt Ondrej vor, Helfern ein Picknick mit Freunden am freigelegten Wasser zu spendieren.

Die Stadt, mit ihren knapp 180.000 Einwohnern, steckt voller Ideen. „Wenn Du in die Hinterhöfe und Keller schaust, wirst Du tollen Menschen begegnen, die ihre Stadt lieben und etwas bewegen wollen.“ Franziska überschlägt sich fast vor Begeisterung. Seit vier Jahren lebt die Deutsche in Pilsen. Sie hat fließend Tschechisch gelernt. Die quirlige 27 jährige lobt die vielen Vereine und Projekte, die „auch ohne Fördergelder verrückte Ideen“ umsetzen.

Vor einem leuchtend roten Vorhang geben die jungen Schauspieler des freien Theaters Abasta eine Vorstellung für Freunde. Ein Stück spielen sie auf „Tscheutsch“. In einer Mischung aus tschechisch und deutsch nehmen sie Verständigungsprobleme der Nachbarn auf die Schippe: Zwei Männer stecken Rücken an Rücken in einem T-Shirt. Mal spricht der eine auf Deutsch zum Publikum, dann der andere auf  Tschechisch. Der nächste Sketch erzählt vom Blind Date einer schüchternen Tschechin mit einem großspurigen Deutschen.

„Tscheutsch“ hört man manchmal auch auf den Straßen der Pilsener Altstadt. Der Verein Tandem organisiert deutsch-tschechischen Jugendaustausch und bietet interaktive Stadtführungen auch auf „Tscheutsch“ an. Wer mitgeht, muss Aufgaben lösen und mit den anderen reden – egal wie.

Anděl zum Beispiel heißt Engel. Die gedeihen in Pilsen prächtig: Als Café-Restaurant, das vegetarische Kost serviert, als vergoldete, wasserspeiende Figur auf dem Platz der Republik oder versteckt an einem Gitter hinter der Sankt Bartholomäus Kathedrale:

Dort blicken 25 kinderfaustkleine Engelsköpfchen auf die Passanten. Immer wieder bleibt jemand stehen, hält ein abgegriffenes, silber- glänzendes Köpfchen fest und geht nach ein paar Sekunden weiter.

Wünsche, an die man dabei denkt, gehen der Legende zufolge in Erfüllung.

χ  Robert B. Fishman

 

Diese Reise wurde unterstützt vom Deutschen Kulturforum östliches Europa, www.kulturforum.info