Picasso verstehen

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Pablo Picasso – der Jahrhundertkünstler

"Ich wollte Maler sein und bin Picasso geworden"

Er gilt als Jahrhunderttalent, Entwickler des Kubismus und Wegbereiter der Moderne. Allein das Wort „Picasso“ ist zum Symbol für Kunst, vielleicht sogar für „nicht verstandene“ Kunst geworden. Doch wo liegt der Unterschied zu seinen Zeitgenossen und inwiefern wurde der Künstler seiner Rolle als Superstar gerecht? Oder kurz gesagt: Wie ist aus Picasso Picasso geworden?

Über keinen Künstler des 20. Jahrhunderts wurde so viel geschrieben. Es gibt unzählige Biographien, Literatur von Zeitgenossen, Werkseinführungen und Interpretationen, bis hin zu skandalösen Boulevardpublikationen seiner verflossenen Liebhaberinnen, die pikante, private Details ausplauderten. Immer wieder ist man als Autor verführt, Picasso auf eine Rolle festlegen zu wollen und auch das viel zitierte „Universalgenie“ wäre eben nur eine Weitere. Bei allen bisher vorgestellten Künstlern in unserer Reihe „Knowing Art“ konnte ich mich bei deren Porträt über das Werk selbst annähern. Doch diese Werke sind weitestgehend homogen. Picasso wird zwar gerne als „Kubist“ definiert, doch das Spektrum seiner Arbeit ist unglaublich vielschichtig. Abgesehen davon, dass sich Picasso selbst niemals als „Kubisten“ bezeichnet hätte, war doch die Verwendung von  Kuben für ihn nur eines von vielen Mitteln und nicht etwa ein dogmatisches Programm. Üblich ist auch, Picassos Wirken in verschiedene Perioden aufzugliedern. So gibt es das Frühwerk, welches vor seiner Zeit in Paris entstanden ist, die blaue und rosa Periode, gefolgt von der Kubistischen. Innerhalb des Kubismus differenziert man zwischen dem analytischen und synthetischen Kubismus – dazu später mehr. Parallel zu den Perioden wird das Werk gerne durch die verschiedenen Gattungen gegliedert. Neben Malerei und Zeichnung fertigte Picasso tausende von Druckgrafiken, Keramiken und Skulpturen an.  Unübersichtlich wird eine Annäherung an sein Werk auch dadurch, dass es zwar grundsätzlich eine kontinuierliche, intellektuelle Entwicklung in seinen Arbeiten gab, er aber immer wieder vor und zurück sprang, sich auf seine vergangene Formensprache bezog und vor allem den Ausdruck seiner Arbeit vielseitig variierte. Ein kubistisches Ölgemälde konnte noch am gleichen Tag um eine nahezu fotorealistische Zeichnung, oder naturalistische Radierung ergänzt werden.

Eine weitere Hürde der Annäherung ist in der Glorifizierung und Heroisierung der Figur Picassos zu sehen, die schon zu Lebzeiten begann und eine neutralere Sichtweise umso schwieriger macht. Seit der Renaissance, die den Künstler aus dem Rang des einfachen Handwerkers enthoben hat, steht der „neue“ Künstler für den Typus des Genies. Am besten als Wunderkind geboren, soll der Künstler eine Mischung aus Genialität, Wahnsinn, Schöpfungskraft, Kreativität, Phantasie und virtuosem, handwerklichem Können verkörpern. So fehlt in keiner Picasso-Biographie der Vergleich zwischen dem „Großen“ Raffael und Picasso, die jeweils von ihrem Vater Pinsel und Farbe übernommen hatten, damit diese nie mehr zu malen hätten. Picasso soll ganz diesem Typus des Genies und Wunderkindes entsprochen haben - er war also eine gute Projektionsfläche für die Phantasien und Vorstellungen seines Umfeldes. Parameter die dieser Heroisierung entgegenliefen, wurden schnell ignoriert oder uminterpretiert. 

DIE FRÜHEN JAHRE

Eine neutralere Annäherung an die Figur Picassos ist vielleicht möglich, wenn wir den Menschen in einen historischen und geographischen Kontext setzen. Picasso wird 1881 als Sohn eines Zeichenlehrers in Malaga geboren. Gerne wird überliefert, dass Picasso schon als Kind mit der Sichtweise eines Erwachsenen zeichnete und ihn das zu einem Wunderkind machte. Tatsächlich unterrichtete sein Vater ihn noch vor der schulischen Ausbildung im akademischen Zeichnen. Dazu gehörte, Gegenstände in ihre geometrischen Grundformen zu zerlegen. So wird es einfacher, Proportionen einzuhalten und auch vermeintlich komplexe Formen zu beherrschen. Werden diese einfachen Zeichnungen beherrscht, folgt das Kopieren von klassischen Meisterwerken sowie das Zeichnen von Gipsbüsten, die als skulpturale Abdrücke zur Verfügung standen. Picasso wurde regelrecht darin getrimmt, dieses akademische Handwerk in Perfektion zu beherrschen. Als er schließlich alt genug war, um mit der Zeichenausbildung zu beginnen, hatte er diese Ausbildung quasi schon vorab durchlaufen und konnte in dieser Wiederholung der Fertigkeiten mühelos gegen seine Mitschüler herausragen. Es war auch sein Vater, der dafür sorgte, dass einerseits die in der Ausbildung gelernten Schritte sich recht zügig zu Hauptgemälden verdichteten und andererseits diese Gemälde zu dotierten Ausstellungen zugelassen wurden. Durch seine Position als Zeichenlehrer und Mitglied diverser Gremien hatte er entsprechenden Einfluss. So gewann Picasso bereits im Alter von 15 Jahren erste Auszeichnungen, gefolgt von Presseerwähnungen. Wer selbst (oder gerade) heute die Ölgemälde im Stile eines Velázquez sieht, wird verständlicher Weise kaum glauben können, dass diese von einem 13 – 15jährigen Jungen sein sollen. Natürlich ist also ein gewisses Talent von Nöten, in Picassos Fall kam aber vor allem Fleiß und beinahe diktatorische Disziplin hinzu. 

Als Picasso 1901 nach Paris kam, hatte er also nicht nur aufgrund seines jugendlichen Alters, sondern auch durch seine Auszeichnungen und Pressepublikationen bereits eine Sonderstellung. Kurz davor hatte er sich nach nur einem Jahr von der berühmten Madrider Kunstakademie verabschiedet. In den dort vorherrschenden, veralteten Ausbildungsstrukturen hätte er zum dritten Mal den Prozess der klassischen Schule durchlaufen müssen und diese Klaviatur beherrschte er schon mühelos. 1868 war als Folge der Revolution eine demokratische Republik in Spanien eingeführt worden und mit dem verlorenen Krieg gegen die Vereinigten Staaten von 1898 änderten sich nicht nur gesellschaftliche Strukturen, sondern auch Perspektiven in Kunst, Philosophie und sozialen Fragen. Gerade für junge Künstler hatte sich die klassische Malerei von der Wirklichkeit der erlebten Realität entfremdet. Paris war zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Zentrum der Kunst und neben spanischen Landsmännern traf der junge Picasso auf Intellektuelle, Dichter und Künstler aus ganz Europa und Russland. Wenn ich vom „Zentrum der Kunst“ spreche, darf das keinesfalls mit heutigen Verhältnissen verglichen werden. Als Daniel Henry Kahnweiler (Picassos späterer Galerist und Wegbegleiter bis zu seinem Tod) nach Paris kam, gab es nur eine Handvoll Galerien. Als er 1906 seine Galerie eröffnete, gab es bereits ein paar Dutzend, 1911 etwa einhundertdreissig Galerien und 1930 waren es bereits über zweihundert. In Prinzip gab es bei Picassos Eintreffen nur 2 Fraktionen: die klassischen Maler und die Wilden – die Fauves, die bei den legendären Herbstsalons durch ihre grellen und dem Impressionismus entsprungenen Gemälde Tumulte hervorriefen. Maler, Dichter und Intellektuelle kannten sich also und Ihre Gesamtzahl war durchaus überschaubar.

In diese Zeit fallen Picassos blaue und rosa Periode. Die Bezeichnung „blau“ und „rosa“ stellen natürlich eine unzureichende Simplifizierung dieser Arbeiten dar. Klar ist, dass sie durch diese Monochromisierung zumindest im Kontrast zu den knalligen Arbeiten der Fauves standen. Ansonsten probierte, beobachtete, inspirierte und versuchte sich Picasso an Allem, was ihm begegnete. Sämtliche damals bekannten Ansätze finden sich in diesen frühen Arbeiten. 

Auffällig und relativ durchgängig sind jedoch drei Aspekte. Zum einen ist da die Auswahl der Motive. Fast sein ganzes Leben werden sich die Motive in Picassos Werk wiederholen: Mutter mit Kind, Gaukler, Prostituierte, Harlekins, Maler und Model, Badende. Hier bricht Picasso bewusst mit der klassischen Auswahl an Motiven. Das Individuum und vor allem das sozial Ausgegrenzte rückt in den Focus. Bereits jetzt zeigt sich eine malerische Besonderheit, nämlich der Einsatz von Linie und Fläche. Exemplarisch in einem seiner Hauptwerke der blauen Periode „Selbstbildnis mit Mantel“ zu erkennen, wird die Figur durch eine starke, zeichnerische Linie definiert – ein Vorgehen, welches bereits im Jugendstil Verwendung findet. Diese Starke Linie sorgt nicht nur für Kontur und klare Abgrenzung, sie bewirkt eine zeichnerische Zweidimensionalität, die durch die Flächen koloriert wird. Die Verwendung gezeichneter Linien innerhalb der Malerei wird ein Charakteristikum Picassos bleiben und innerhalb des späteren Kubismus eine entscheidende Rolle spielen.

Der dritte Aspekt ist die willkürliche Streckung des Körpers zugunsten der Proportion. Ganz neu ist das nicht. Egal ob Michelangelo, Grunewald, Feuerbach oder Ingrés, Beispiele aus knapp fünfhundert Jahren Kunstgeschichte. Auch dort wird eine anatomisch korrekte Wiedergabe zu Gunsten der Komposition vernachlässigt, freilich nicht in dem Extrem, wie Picasso das tut. 

PHILOSOPHIE DES KUBISMUS

Es bleibt nicht erspart, einen kurzen kunsthistorischen und philosophischen Exkurs zu wagen, den ich auf den folgenden Abschnitt beschränken möchte. Bemerkenswert und ein deutlicher Unterschied zu seinen Malerkollegen ist Picassos Auseinandersetzung mit den formalen Mitteln der Malerei. Es gibt keines (Perspektive, Licht, Linie, Fläche, Kontrast, Ebene etc.), welches er nicht ausgiebig hinterfragt. Anwendung finden die Mittel bei allen Malern, aber nur Picasso vollzieht den Schritt von der Beobachtung der jeweiligen Auswirkung einer Variation hin zur übergeordneten Bedeutung. Etwa im Jahr 1906 macht er eine vermeintlich einfache, aber revolutionäre Entdeckung. Jede Abbildung bewegt sich zwischen zwei Polen: Einer idealen Übereinstimmung von Gegenstand und Nachahmung und andererseits dem völligen Fehlen dieser Übereinstimmung. 

Jede Zeichnung enthält also auch immer Linien, die aus dem Zusammenhang genommen völlig abstrakt sind. Picassos Erkenntnis fußt darauf, dass jedes naturnachahmende Abbild eine Verbindung von Elementen ist, die nicht zwangsläufig zusammen gehören.
Es muss also auch möglich sein, diese Elemente neu zusammen zu setzen, um damit Formen zu gewinnen, die immer noch verständlich sind, aber nicht mehr als reine Imitation der Natur gesehen werden. Was sich vielleicht zunächst verwirrend anhört, findet nach über 800 Vorarbeiten (laut Kahnweiler sogar über 900) Umsetzung in dem Schlüsselgemälde „Les Demoisselles d`Avignon“ 1907 (leider besitzen wir keine Bildrechte zur Publikation). Das ist die Geburt des analytischen Kubismus: Er zeigt – vereinfacht gesagt – die verschiedenen Ansichten eines Gegenstandes, um so eine größere Wahrhaftigkeit darzustellen. Die größte malerische Herausforderung ist dabei der stetige Kampf zwischen den Linien, die die Figuration definieren und der gesamten Komposition. Und im Unterschied zum Impressionismus wird plötzlich deutlich: Der Impressionist malt was er sieht, der Kubist malt was er weiß. Der Impressionist malt quasi eine Art Realismus des Flüchtigen, während der Kubist versucht, Wahrhaftigkeit als solches darzustellen.

Laut dem Dichter Olivier Hourcade wird der Kubismus als eine Suche nach Wahrheit und, im Verzicht auf die Wiedergabe der äußeren Erscheinungswelt, auf illusionistische und optische Effekte als „Ding an sich“ definiert, ganz im Sinne eines Immanuel Kant. Wo bisher in der Geschichte der Malerei Inhalt und Form, sowie Botschaft und Aussehen übereinstimmen mussten, wurde nun die reine Form zum Inhalt. Denn laut Kant ist die Abbildung einer Realität äußerst fragwürdig, beruht sie doch auf einer illusionären, menschlichen Wahrnehmung. Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Arthur Schopenhauer folgen dieser Idee und erkennen die ästhetische Wirkung der Malerei durch ihre reinen Mittel von Zeichnung und Farbe als solches an.

Doch das ist noch nicht das Ende des Kubismus, er wird über die Jahre weiterentwickelt. Es handelt sich bei Picasso nicht nur um verschiedene Ansichten eines Gegenstandes, sondern vielmehr um die Beziehung der Einzelaspekte zum Umfeld. 

Wenn die Form jedoch inhaltsfrei ist, warum sie nicht nach Belieben austauschen? Malerei ist eine Schrift und kein Spiegelbild der Wirklichkeit. Sie stellt sich in Form von Zeichen und Chiffren dar, durch die der Künstler seine visuelle Erfahrung vermittelt und nicht durch illusionistische Nachahmung. Picasso treibt die Abkehr der Darstellung einer bildhaften Realität immer weiter. Er versucht nicht mehr die Außenwelt zu imitieren, sondern durch Zeichen wiederzugeben (Synthetischer Kubismus). Das ist ein entscheidender Schritt in der Geschichte der Malerei – ein wirklicher Bruch. Es ist also z.B. keine wirkliche Frau zu sehen, sondern eine Anzahl von Zeichen, die man als Frau verstehen kann, ähnlich wie die Schriftzeichen F.R.A.U., die nur im Kopf des Lesenden eine Vorstellung entstehen lassen. Man liest also das Bild und erfährt mehr als den visuellen Gegenstand, den es darstellt.

Sein Wegbegleiter und Künstlerkollege Georges Braque drückt sich so aus: „Malen heißt nicht abbilden … Schreiben heißt nicht beschreiben!“ 

Erkennbarkeit läuft bei Picasso also über den Intellekt, wenn er mit erkennbaren und assoziierenden Formen spielt, die sich in der Wahrnehmung des Betrachters wieder verdichten sollen. Diese neue Betrachtungsweise in der bildendenden Kunst findet nicht nur Parallelen in der Philosophie, sondern auch in der Musik. So wie Kubismus, Licht und Perspektive aufbricht, bricht die Zwölftonmusik die Tonalität auf. Der Kubismus ist eine optische Angelegenheit, wie die Atonalität eine akustische.

ENTWICKLUNG ZUM SUPERSTAR

Rechtfertigen diese Errungenschaften den Aufstieg zum Jahrhundertmaler? Von Alban Berg oder Arnold Schönberg haben Sie vielleicht ja auch schon gehört, doch eine so exponierte Stelle, wie Picasso sie in der bildenden Kunst inne hat, wird ihnen in der Musik nicht eingeräumt. 

Picassos Leben unterscheidet sich zu dem anderer seiner zeitgenössischen Künstlerkollegen vor allem dadurch, dass er immer wieder eine Sonderrolle einnimmt, durch die er und seine Arbeit sichtbar werden. Erstaunlicherweise – oder eigentlich überhaupt nicht erstaunlich, sonst wäre Karriere tatsächlich viel planbarer – passiert dies in ständiger Wiederholung, ohne sein aktives oder bewusstes Zutun. Bereits als zehnjähriger Schüler der Schule für Bildende Künste „Instituto da Guarda“, stach Picasso dadurch hervor, dass er das zu Erlernende bereits beherrschte – hatte er doch zuvor die Privatausbildung durch seinen Vater erfahren. Sein Vater war es auch, der über sein Netzwerk die Basis für erste Kunstpreise und Auszeichnungen sowie für die Aufnahme an der  Kunstakademie „La Llotja“ legte. 

Als 1914 der erste Weltkrieg ausbrach, bedeutete dies einen tiefen Einschnitt für das kulturelle Leben in Paris. Spielten in den intellektuellen Kreisen bis dato Nationalität oder Herkunft eine untergeordnete Rolle, stand man sich plötzlich als Feind gegenüber.
Nicht wenige seiner Malerkollegen zogen freiwillig und begeistert in den Krieg - Georges Braque wurde durch eine Kopfverletzung schwer verwundet. Andere, wie z.B. sein deutscher Galerist Daniel Henry Kahnweiler, gingen in das Schweizer Exil. Picasso verbrachte die Zeit weitestgehend alleine in Paris, arbeitete weiter, stellte aus und war als neutraler Spanier weiterhin sichtbar. Gerade in dieser Zeit knüpfte er wertvolle Galleriekontakte. Eine Besonderheit dieser Zeit war, dass die Galeristen mit ihren Künstlern exklusive Verträge aushandelten. Die Künstler bekamen ein festes, monatliches Gehalt und mussten im Gegenzug eine genau ausgehandelte Anzahl an Gemälden und Zeichnungen abliefern. Picasso war einer der Wenigen, der sich einfach nicht daran hielt. Immer wieder verkaufte er direkt an Sammler, andere Galeristen oder Händler. In Kahnweilers Biographie sind ganze Briefwechsel über dieses Ärgernis nachzulesen. Picasso hatte sich einen entscheidenden Vorsprung geschaffen. Schon in diesen frühen Jahren war er etwas teurer gewesen als Legér, Braque oder van Dongen. Alleine dadurch hatte er bei jeder Ausstellung eine gehobene Position, war bei jeder Verhandlung mit Kunsthändlern „outstanding“. Was weniger bekannt ist, ist der massive Antisemitismus, der zu jener Zeit auch die französische Gesellschaft prägte. In Kombination mit dem deutschen „Erzfeind“ wurde gegen jüdische, deutsche und bolschewistische Künstler auf politischer Ebene intrigiert. Auch davon war Picasso nicht betroffen. Zur Zeit der Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre kam Picasso im Gegensatz zu anderen Malern durch seine Ersparnisse mit einem blauen Auge davon. Und als 1939 erneut Krieg ausbrach, hatte Picasso als Spanier erneut eine Sonderstellung innerhalb der Pariser Gesellschaft. Die deutschen Besatzer hatten marxistische, pazifistische, jüdisch-bolschewistische, expressionistische oder abstrakte Kunst als „entartet“ verboten. Doch während der gesamten Besatzungszeit sind in Paris Bilder von Picasso und Braque gezeigt worden. Auch wenn Picasso Guernica malte, wäre es falsch, Picasso als Widerstandshelden zu sehen. Die Deutschen wollten dem Ausland zeigen, dass sich Kunst und Literatur in Paris noch nie so entfalten konnte wie eben jetzt (Besatzungszeit) – da sperrt man einen Picasso nicht weg. Picasso war natürlich kein Kollaborateur, doch verkaufte er während der Besatzung auch an Deutsche. Überliefert ist das Gespräch mit einem deutschen Offizier, der beim Betrachten des Werkes „Guernica“ fragte: „Waren Sie das?“ - worauf Picasso antwortete: „Nein, Sie!“. 1944 schließlich wurde Picasso Mitglied der kommunistischen Partei, bei denen er sehr zu seinem eigenen Verdruss als Aushängeschild missbraucht wurde.

Parallel zur Sonderstellung Picassos innerhalb der europäischen Geschichte, muss die grundlegende Situation des Kunsthandels beleuchtet werden. Als Picasso nach Paris kam, konzentrierte sich der gesamte Kunsthandel auf ein Gebiet von St. Petersburg, über Paris nach London. Der amerikanische Markt spielte eine untergeordnete Rolle – wenn überhaupt war er an Klassikern, nicht aber an zeitgenössischer Kunst interessiert. Das änderte sich jedoch in den zwanziger Jahren schlagartig, als amerikanische Milliardäre zeitgenössischer Kunst für sich entdeckten und mit einem neuen Selbstbewusstsein eigene Sammlungen gründeten. 1929 wurde das heute weltberühmte MoMA (Museum of modern Art, New York) gegründet – mit gerade einmal 8 Werken. Der amerikanische Markt explodierte förmlich und verlangte nach immer neuen Arbeiten. Es klingt vielleicht profan, aber Picasso konnte liefern. Kein anderer Künstler seiner Zeit war so produktiv. Im Lauf seines Lebens hat Picasso über 50.000 (!) Kunstwerke geschaffen. Mit Daniel Henry Kahnweiler hatte Picasso einen der findigsten und bestvernetzten Kunsthändler an seiner Seite, der unerbittlich für die Einhaltung von festgesetzten Preisen und die progressive Eroberung neuer Märkte eintrat.

KRITIK UND BEDEUTUNG

Dass Picasso mit seinen intellektuellen Ideen und formalen Ausarbeitungen einen wichtigen Beitrag in der Entwicklung zeitgenössischer Kunst geleistet hat, ist unumstritten. Ohne ihn wäre ein Konstruktivismus, Suprematismus, Informel oder der deutsche Expressionismus nicht möglich gewesen. Und doch ist es so, dass mich seine Arbeiten – abgesehen von einigen ganz frühen Werken – nicht wirklich berühren. Denn so wichtig ein Bewusstsein für malerische Mittel und deren Funktionen ist, so wenig funktionieren Picassos Ideen, wenn man die Arbeiten als Zuschauer betrachtet. Wenn Picasso eine Vase aus verschiedenen Zeichen und Perspektiven zusammensetzt, dann habe ich als Betrachter die intellektuelle Idee dahinter recht schnell verstanden und respektiere  ihre Notwendigkeit. Der „Wahrheit“ einer Vase oder ein tieferes Verständnis habe ich aber über dieses visuelle Erlebnis nicht bekommen. Sobald das Intellektuelle erarbeitet und verstanden ist, kann es in seiner Bedeutung durch tausendfache Variation visueller Anreize nicht weiter gesteigert werden.
Und so erschöpfen sich Picassos Werke recht schnell, man wird müde und es wird müßig immer wieder aufs Neue seine Ideen entschlüsseln zu müssen. Auf irgendeine Art scheint das Picasso auch bewusst gewesen zu sein. Denn gerade in seinen späten Jahre bezieht er sich mehr und mehr auf Sujets und Kompositionen alter Meister wie Cranach, Courbet, El Greco, Manet, Velazquez oder Murillo. Auch sein beinahe autistische, zwanghafte, getriebene Arbeitsweise, ununterbrochen schöpferisch tätig sein zu müssen, bringt nicht unbedingt nur Qualität zum Vorschein. Vor allem seine Keramikarbeiten würde ich als dilettantisch und naiv bezeichnen, auch wenn er sich dabei auf das unbewusste und unmittelbare, als eine gültigere Form der Wirklichkeit bezieht. Ideen, die von Freuds Psychoanalyse ausgehend Eingang in die Kunstrichtung des Surrealismus und des folgenden Actionpainting gefunden haben und in dieser Form natürlich auch Einfluss auf Picasso hatten. Aber vielleicht ist Picasso da wirklich wie eine Zwölftonmusik zu verstehen: Aals Idee grandios, anhören? Eine Qual!

In diesem Zusammenhang ist es vielleicht auch interessant zu erwähnen, dass obwohl intellektuell bereits hinreichend ausgearbeitet, eine ganze deutsche Künstlergarde sich überflüssiger Weise ähnlichen Themen widmet und nutzlosen Unfug produziert. Die Sprache ist von einem Markus Lüpertz oder Jonathan Meese, die auch den Irrglauben proklamieren, dass ihrem subjektiven Dilettantismus eine höhere Wahrhaftigkeit zugrunde liegt. 

Aber am Ende des Tages gibt es neben dem Künstler, seinem Werk und der politischen Umbrüche innerhalb derer er tätig ist, eben immer auch uns: Den Zuschauer, Betrachter, das Publikum. Wir sind diejenigen die heroisieren und das Extreme verlangen – selten das Ausgewogene, Stabile. Wenn wir also Picasso als einen Jahrhundertkünstler bezeichnen, dann eben auch deshalb, weil wir uns nach der Idee des genialen, schöpferischen, exzessiven und intellektuell überlegenen Unicums sehnen. Die Stimmen, die nach Zwischentönen suchen, sind naturgemäß etwas leiser.

• Tobias Vetter

 

Fondation Beyeler

Der junge Picasso - 

blaue und rosa Periode

zu sehen bis 26.05.2019

www.fondationbeyeler.ch