Liebe in Zeiten von TINDER – Dating als digitales Erlebnis

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So nah – so fern

Liebe in Zeiten von TINDER

Dating als digitales Erlebnis

 

Fotos by Stefan Huber Text by Tobias Vetter

 

„Liebst Du mich? Kreuze an: Ja – Nein“, wer kennt das noch aus Grundschulzeiten? Liebe war analog und die Auswahl potentieller Kandidaten regional begrenzt. Mit zunehmendem Alter wurde die Ausdrucksweise geschliffener: „Was machst Du hier? Du müßtest schon längst in meinem Bett sein!“. Man erprobte neues Terrain und verirrte sich ins Intellektuelle: „Mir ist aufgefallen, dass dir aufgefallen ist, dass du mir aufgefallen bist! Kurz gesagt: Trinken wir was zusammen?“. Man traute sich gar an erste Anzüglichkeiten heran: „Sag Deinen Brüsten sie sollen aufhören mir in die Augen zu starren!“. Doch egal in welcher Flirtkategorie man zur Höchstform auflief, es gab immer diesen einen magischen Moment, indem sich zwei Fremde begegneten und die Trümmer der eigenen Implosion aus Verlangen, Scham, Unsicherheit und Lust, in ein perfektes Kokon der Raffinesse, Coolness und Stärke gebettet wurde.

Wie zwanghaft und schwierig wir (Sie und Ich liebe Leser, die in etwa die Jahrgänge der 50er – 80er Jahre vertreten) diese Zeit mit all ihrer Aufregung auch in Erinnerung haben, vielleicht war es in Wahrheit die große Zeit der freien Liebe und Partnerwahl. So beschreibt Tolstoi in seinem Roman „Anna Karenina“ wie im späten 19. Jahrhundert das Leben des Adels, unter anderem dadurch in Verwirrung geriet, dass die gute Tradition der Kupplerinnen an Bedeutung verlor. Dass die englische Sitte, in der die Eltern über die potentiellen Ehegatten ihrer Sprößlinge bestimmten, als nicht weniger attraktiv empfunden wurde und dass man ganz en vogue, dem großen Trend der französischen Höfe folgend, nach individueller Liebe, die Ehe schloß. Dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel geschuldet, sollten noch einige Jahrzehnte vergehen, bis durch diesen Trend der „High Society“, sich Liebende aus allen sozialen Schichten ihr Ja-Wort gaben. Wir würden nicht zur Zeit des hyperventilierenden Superkapitalismus leben, hätten dessen Strukturen nicht längst auch die Märkte der Liebe, bis in die feinsten Verästelungen durchdrungen. Sie sind Ihr eigenes Produkt, Ihre eigene PR Abteilung, Ihr eigenes Marketinginstrument. Der kleinste Makel verwandelt Sie in das Stück Obst mit dem kleinen braunen Fleck, der unglücklichen Krümmung oder der blassen Farbabweichung, welches in jedem Markt in den Kisten zurückbleibt. Da in einem Markt nichts wirklich unverkäuflich ist, bleiben Sie im Angebot: zum niedrigst denkbaren Preis und zur maximalen Verwertbarkeit. 

Nichts fordert mehr Effizienz, als der freie Markt. Es ist geradezu beeindruckend mit welcher Geschwindigkeit und Kompromisslosigkeit sich Partnersuchende den Regeln dieses Effizienzdenkens beugen. Finden können diese sich z.B. durch die Anwendersoftware „Tinder“. Eine App die auf dem Smartphone installiert, Fotos von Menschen in ihrer Umgebung zeigt. Mit einem Wisch nach rechts zeigen sie sich interessiert, mit einem Wisch nach Links verschwindet das gezeigte Profil im Nirvana. Sollten zwei Nutzer sich gegenseitig nach rechts gewischt haben, entsteht ein „Match“ und man könnte einen Chat beginnen. Grundsätzlich ist die Nutzung dieser App kostenlos, doch über 5 Millionen zahlende Nutzer weltweit, zeugen von deren Erfolg.

Was macht Tinder so erfolgreich? Kaum etwas ist stärker, als unsere Vorstellungskraft. 

Stellen Sie sich Ihren perfekten Traumpartner vor. Ich garantiere Ihnen, Sie werden ihn finden, in Form einer Fotografie auf Tinder. Sogar in zigfach geklonter Ausführung, aber mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit nicht als Partner bekommen. Warum das so ist? Weil man auf Tinder nicht nur Suchender ist, sondern immer auch Anbieter. Als Anbieter erhöhe ich die Wahrscheinlichkeit Gefundener zu werden, wenn ich meinen Marktwert erhöhe. Meinen Marktwert erhöhe ich, indem ich die Regeln der gültigen Attraktivitätsvorstellungen bediene. Dabei gerate ich jedoch in einen Konflikt. Die App reduziert sich auf die rein visuelle Darstellung. Ich höre keine Stimme, sehe keine Reaktion, verliebe mich nicht in ein Lächeln, eine Spontanität, einen Geruch, einen gemeinsamen Moment. Ich verliebe mich in ein Bild, dass meiner Vorstellung entspricht. Je attraktiver ich mich selbst positioniere, desto mehr entfremde ich mich von mir selbst. Eine reale Begegnung wäre da schon beinahe fatal, da ich das versprochene Bild von mir nicht bestätigen kann. Die angestrebte Lösung der Tindernutzer ist dabei relativ simple. 

 

Mutation zum Klischee 

Man kommuniziert nicht nur durch Codes, sondern man versucht übernommene Codes für sich selbst als authentisch zu empfinden. Einfacher gesagt: werden Sie ein Klischee und versuchen Sie dann zu glauben, dass das wirklich Sie sind. 

Sie möchten als Frau auf Tinder erfolgreich sein? Befolgen Sie diesen Code und publizieren Sie jeweils ein Foto mit folgenden Attributen: beim Tauchen, vor einem Gipfelkreuz, mit Duckface, mit gebräunten Beinen am Strand, vorm Eifelturm, der Kulisse von Dubai oder NY, im Pool von Marina Bay Sands in Singapoore, vor einer (mittlerweile beliebig gewordenen) Wand mit riesigen, gemalten Engelsflügeln, ein Selfie mit Louis Vuitton Tasche (oder ähnlichem Label), im Fahrstuhl oder einer Hotelsuite. Fertig ist der Klon. Möchten Sie, dass der Mann alles bezahlt, fügen Sie in der kurzen Beschreibung „looking for real gentleman“ oder „man who knows how to treat woman“ hinzu. 

Sie möchten als Mann erfolgreich sein? Dann müssen Sie die Balance zwischen Waschbrettbauch und Finanzpotenz herausfinden. Möchten Sie ein richtiger Player sein, werden Sie beides benötigen. Es gelten folgende Attribute und Sie sollten jeweils ein Foto davon publizieren: Waschbrettbauch, beim Sport (gerne Joggen am Strand, Sonnenuntergang), vorm Auto (oder mehreren, Porsche gilt  in etwa als middle class), vor oder auf einer Yacht, vor jeweiliger Kulisse die Sie als Worldtraveller gebührend ausweist. 

Virtuell bleiben 

Es wird gar nicht erst versucht die Welt der virtuellen Perfektion zu verlassen. Für einen Großteil der Nutzer, scheint bereits die Beschäftigung mit der Idee einer perfekt inszenierten Möglichkeit, einen ausreichenden Level an Befriedigung zu erzielen: Ich schicke Dir Codes meiner perfekten Inszenierung und du schickst mir Codes deiner perfekten Inszenierung. In diesem hochsensiblen Kommunikationsregelwerk genügt bereits die kleinste Schwäche, der kleinste Konflikt, um einen sofortigen Abbruch des Kontaktes zu bewirken. Jetzt könnte ich schreiben, dass das Spiel von neuem beginnt, doch wer das meint hat es nicht verstanden: das Spiel hat nie aufgehört und es hört auch nie auf, es läuft immer weiter und es laufen immer mehrere Kontakte parallel, nur der Einzelne wird dabei ausgetauscht. Das Gehirn wird unaufhörlich getriggert und setzt genau wie bei Glücksspiel oder Drogenkonsum Dopamin frei. Unter Therapeuten ist bereits das neue Patientenfeld der (kein Witz) Datingabhängigen entstanden. Das Dating ist bei dieser Art der Beschäftigung gar nicht mehr das Ziel, sondern ausschließlich das vollführen einer Tätigkeit, die den eigenen Narzissmus immer und immer wieder füttert. 

Sehnsüchte Konsumieren 

Die Nutzer dieser Kategorie haben erkannt, dass sie in dem Spiel um Anhäufung von Codes das Nachsehen haben. Sie können nicht konkurrieren. Sie wissen, dass mit dem Bild, dass sie von sich selbst in der Lage sind abzugeben, der Traumpartner von überhaupt niemanden sind. Das macht sie nicht reflektierter, den die Codes die diese Nutzer verwenden sind nicht weniger klischeehaft (sie positionieren sich, indem sie andere Nutzergruppen versuchen herabzuwürdigen, sie versuchen Identifikationen zu schaffen, zeigen sich devot oder dominant etc.), es macht sie aber etwas freier für tatsächliche Begegnungen. Und auch wenn ich keine verlässliche Daten darüber  recherchieren konnte, würde ich unterstellen, dass die Anzahl der tatsächlichen Kontakte in der realen Welt, bei dieser Nutzergruppe am höchsten ist. 

Am Ende bleibt ein trauriges Bild. In einer Welt in der alle miteinander vernetzt, in der Träume und Sehnsüchte scheinbar zum greifen nah sind, in der auf dem eigenen Smartphone sogar eine Interaktion von mir selbst und dem begehrten Gegenüber stattfindet (was durch die Illusion des nach rechts wischen – also einer positiven Entscheidung für jemanden – noch bestärkt wird), bleiben wir einsamer als zuvor zurück. Niemand wird die Vorstellung eines anderen erfüllen können. Es ist die perfideste Eigenschaft des Kapitalismus, die sich hier in seiner Hässlichkeit zeigt: die Verführung zu glauben, seine eigenen Sehnsüchte im Anderen konsumieren zu können. 

Auch wenn wir uns selbst immer wieder zu täuschen versuchen, der Mensch bleibt analog. Wenn ich mich verlieben möchte, muss ich lieben können. Lieben können heißt, offen zu sein. Um offen zu sein, muss ich mich selbst annehmen. Ich referiere mich also auch auf mich selbst, aber nicht in der Art, dass ich mich in meinen souveränen Stärken positioniere, sondern dass ich meine vermeintlichen Schwächen in meinem Sein zulasse. Das bewirkt nicht nur eine ungeheure Entschleunigung (also genau das Gegenteil von Tinder), es öffnet auch meine Sinne und macht mich wach um meinen Gegenüber zu sehen. Und das ist der erste Schritt um wirklich aneinander zu berühren. In einer analogen Welt kann das nur bedeuten, im nächsten Supermarkt, an der nächsten Bar, bei der nächsten Feier zu sagen: „Lachst Du mich an, oder lachst Du mich aus?“ … oder was immer ihre Paradespruch aus der alten Schule des Flirtens ist.

by Tobias Vetter