Kulturhauptstadt 2015 – Mons im Porträt

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Mons, Europas bisher kleinste Kulturhauptstadt, will nächstes Jahr groß herauskommen •

 

Im wallonischen Mons, Kulturhauptstadt 2015, bauen weltberühmte Architekten. Vincent van Gogh, der ursprünglich Pfarrer werden wollte, entdeckte hier sein Maltalent. Touristen bietet die Kleinstadt im ehemaligen belgischen Kohlerevier drei Welterbestätten und ein Stadtfest, das die Vereinten Nationen als „lebendiges Brauchtum“ zum immateriellen Welterbe erhoben hat. Die ganze Stadt feiert mit.

 

Moderne Kunst gedeiht in Mons auf ehemaligen Zechen, in verlassenen Fabriken und auf Baustellen: Stararchitekt Santiago Calatrava entwarf den rund 90.000 Bewohnern der Europäischen Kulturhauptstadt 2015 den neuen Bahnhof, Daniel Libeskind das Kongresszentrum.

„Wir bauen keine weißen Elefanten“, verspricht Kulturhauptstadt – Direktor Yves Vasseur. Das 75 Millionen Euro teure Kulturhauptstadt – Programm bleibe auf Augenhöhe mit den Menschen.

 

Mehr als 500 Projektvorschläge schickten die Bürger aus Mons und Umgebung an die Stiftung, die das Programm organisiert. 22 wählte sie aus. Emanuel Vinchon kümmert sich um die, die abgewiesen wurden.

„Wir reagieren auf jede Beschwerde“, verspricht er. Wir bitten die Leute, uns zu sich ins Viertel einzuladen, bringen Essen und Getränke mit und hören zu.“ Dann helfen die Kulturhauptstadt – Manager den Bewohnern, eigene Projekte zu entwickeln. Rund 9.000 der etwa 90.000 Monser hätten sie damit bisher erreicht. „Kulturmacher müssen sich für die Leute interessieren, nicht umgekehrt“, findet Vinchon.

„Die Kulturhauptstadt – Stiftung war lange Zeit wie ein Panzer: niemand wusste, was darin vorgeht und wo hin sie fährt“, kritisiert Alexandre Seron. Begeistert zeigt er Besuchern als ehrenamtlicher Stadtführer seine Heimatstadt. Mons, das sind für ihn die vielen Freunde und die Möglichkeit, Ideen gemeinsam schnell umzusetzen.

Alle paar Schritte begrüßen ihn Menschen mit Umarmungen, Küsschen links und Küsschen rechts. Die von außerhalb eingeflogenen Kulturhauptstadt – Mitarbeiter hätten lange nicht verstanden, wie die Leute hier ticken, sagt Seron.

„Schau Dir meinen Vater an“, nennt die 37jährige Frohnatur ein Beispiel: „Mit 16 hat er die Schule verlassen und bis zur Rente bei der Eisenbahn

gearbeitet. Bis zur Schließung der Zechen hat er Grubenzüge gefahren.“ Ins Theater ginge er nie. „Er versteht nicht, worum es bei der Kulturhauptstadt geht.“ Die Stiftung Mons 2015 sei, viel zu spät auf die Menschen in der Stadt zugegangen.

Umsonst war die Mühe nicht. Rund 1300 Leute haben sich inzwischen als ehrenamtliche Botschafter der Kulturhauptstadt bei der Stiftung gemeldet.

„Wir haben hier andere Probleme“, schimpft der Graubärtige mit den zum Zopf gebundenen langen Haaren an seinem Stand in der Fußgängerzone. „Meine Frau war Lehrerin“, erzählt der stämmige End-Fünfziger: „Manche Schüler kommen barfuß in die Schule, weil sich die Eltern keine Kinderschuhe leisten können.“ In den Gemeinden rund um Mons, dem ehemaligen Kohlerevier Borinage, „kennen viele Kinder ihre Väter und Großväter nur in Trainingshose vor dem Fernseher: Arbeitslose in der dritten Generation.“

Mons zwischen Angst und Furcht

Am Stand verkauft Seile in den Stadtfarben Rot-Weiss, die sich die Monser und ihre Gäste zum Stadtfest Doudou um den Hals hängen, dunkelblaue T-Shirts mit der Aufschrift „Les Montois ne periront pas“. Die Monser werden nicht vergehen.

Der Glockenturm, der die Hemden ziert, erinnert an den ständigen Machtkampf mit den Stiftsdamen der Heiligen Waltrudis, den Channoinesses de Saint Waudru. Mit ihrem Kloster hatten die eigenwilligen Damen einst auf einem Hügel zwischen den Flüssen Haine (Hass) und Trouille (Furcht) den Grundstein der Stadt gelegt. Der einflussreiche Orden mit besten Beziehungen in Europas Königshäuser gehörte erst zu den Benediktinerinnen, dann zu den Augustinerinnen. Später gingen die Schwestern eigene Wege. Die Stiftsdamen wohnten in ihren eigenen Häusern. Sie durften heiraten und jederzeit den Orden verlassen. Aus ganz Europa zogen einflussreiche adelige Frauen in diese freie Gemeinschaft.

Vier Mal Weltkulturerbe und einmal Kulturhauptstadt

Die Bürger, mit Handel, Holzverarbeitung, Bier und Stoffen reich geworden, wollten mitbestimmen. Nach dem Einsturz des ersten Glockenturms stritten sie mit den Stiftsdamen jahrelang um die Zeiten, zu denen die Glocken
eines neu zu bauenden Turms läuten sollten. Schließlich errichtete die Stadt im 17. Jahrhundert ihren eigenen Belfried. Teuer und weithin sichtbar zählt der einzige Barock-Glockenturm Belgiens inzwischen ebenso zum Weltkulturerbe wie das ehemalige Zechengelände Grand Hornu, die prähistorischen Steinbrüche in Spienne und das Stadtfest Ducasse, das die Einheimischen Doudou nennen.

Klassenlose Gesellschaft

Jedes Jahr nach Pfingsten feiern die Montois eine Woche durch. Am Mittwoch Abend sammeln sich Hunderte im Wohnzimmer der Stadt, dem von Cafés, Kneipen und Bars gesäumten Großen Platz im Herzen der Altstadt. Man trifft Freunde, quatscht, trinkt und tanzt bis in die Nacht. Überall in der Innenstadt haben die Kneipiers Bierstände aufgebaut. Aus Boxentürmen dröhnen heimische Chansons, Techno- und Mainstream-Sound. Viele tanzen auf der Straße. „Vive nous, vive vous, vive le Doudou“, Hoch leben wir und ihr und das Doudou, singen sie, viele Arm in Arm.

„Während des Doudou vergessen wir den Alltag“, schwärmt Alexandre Seron, „da sind wir eine klassenlose Gesellschaft.“ Der Unterschied zum Karneval: „Wir verkleiden uns nicht, weil wir erkannt werden wollen.“

Am Samstag Abend strömen Honoratioren, einfache Bürger und Geistliche in die Kirche Sainte Waudru. Die vollen Klänge der Orgel füllen das weite gotische Kirchenschiff. Behelmte Männer in mittelalterlichen, schwarz-gelben Uniformen stehen mit Hellebarden in der Hand Spalier.

„Diesem magischen Moment kann sich kaum jemand entziehen“, verkündet der Pfarrer im gold-weißen Ornat, bevor er dem Bürgermeister symbolisch für ein Wochenende die Reliquie der Stiftsgründerin Waltrudis übergibt. Weil sie im 7. Jahrhundert Wunder vollbrachte und ein Kloster gründete sprach die Kirche sie heilig. Drei Bauern, die zu Unrecht verhaftet worden waren, befreite Waudru der Legende nach mit Gebeten von ihren Ketten.

Zu Orgelklängen seilen kräftige Männer in grünen Gewändern den Schrein mit den Gebeinen der Heiligen Waudru bedächtig ab, hieven ihn im Weihrauchnebel auf eine Sänfte und tragen ihn durch die Kirche.

Ernste Gesichter beobachten die jährlich gleiche Prozedur. Behelmte Männer in mittelalterlichen Uniformen mit Hellebarden in der Hand bewachen. Monser in historischen Trachten defilieren vor dem Altar, wo sie sich andächtig verbeugen.

Geschmückt mit einer Schärpe in den Landesfarben verfolgt Belgiens Ministerpräsident Elio Di Rupo – erster Bürgermeister der Stadt –  mit anderen Ehrengästen das Geschehen. Der Kirchenchor singt zu den Klängen der Orgel, die Bach, Händel und heimische Lieder spielt. Als Organist und Chor das Doudou-Lied, die Hymne des Stadtfests anstimmen, stehen manchen die Tränen in den Augen.

Stolze Stadt Mons

„Ich bekomme schon eine Gänsehaut, wenn ich daran denke“,
erzählt die Künstlerin Rosalie, die sich den Auftakt des jährlichen Stadtfestes nicht entgehen lässt. Rosalie malt in ihrem Atelier, legt Mandalas und gibt Meditationskurse. In  die Kirche geht sie sonst „eher nicht“. Nach der „Descente de la Châsse“ genannten Aufbahrung der Reliquie auf ihrem gold-weißen Prunkwagen folgt am Sonntag Morgen die Prozession durch die Stadt. Zu Tausenden drängen die Menschen auf die Grande Place.

Vor der Kneipe No Maison hat ein junger Kellner seinen Kopf auf eine Biergartenbank gelegt. Kurz hebt er den Blick und dreht die Faust vor seiner Nase. „Gestern zu viel erwischt“. Mühsam erhebt er sich, bringt einem Gast sein Bier.

Auf dem Platz trinken Horden junger Kerle weiter und grölen Lieder, die nach Fußballstadion klingen. Zum Spaß schleifen sie sich gegenseitig durch die Arena, die Mitarbeiter der Stadt für den

Höhepunkt des Festes auf der Grande Place errichtet haben.

Kräftige Männerhände geben ein weinendes Mädchen über die Köpfe die Menschen zu einer Tribüne, wo eine Zuschauerin die Kleine spontan in Empfang nimmt und tröstet. „Wir halten zusammen“, versichert Alexandre Seron. Trotz reichlich Bier und derber Späße bleibt das Fest friedlich. Wer im Gedränge Panik bekommt, wird sicher hinaus geleitet – zur Not über die Köpfe der anderen hinweg.

In einem mit Sand aufgeschütteten Kreis in der Mitte des Platzes kämpft der Heilige Georg gegen den Drachen. Das Spektakel folgt einer 500 Jahre alten Choreografie: Teufel schlagen mit Gummikeulen auf die Helfer des Heiligen Georg ein, der von zwölf weiß gewandeten kräftigen Männern getragener Drache mit einem rund fünf Meter langen Schwanz dreht sich gegen den Uhrzeigersinn. Sankt Georg, hoch zu Pferd, hält mit seinem Schwert dagegen. Alle Figuren und jede Handlung hat ihre symbolische Bedeutung. Immer wieder senken die Drachenträger den Schwanz des Ungeheuers in die johlende Menschenmenge, aus der Dutzende Hände nach dem schwarzen Büschel am Ende des Schweifs greifen. Ein Haar daraus soll Glück bringen.

Drei Mal versucht der Heilige Georg auf einem rot geschmückten Rappen sitzend den Drachen mit einer Lanze zu töten. Unter den Schreien der Menge zerschellt die Waffe am grünen Panzer des Tiers. Schließlich reicht eine rothaarige Frau im feuerroten Kleid einem Polizisten eine Pistole. Dieser gibt sie an den Heiligen weiter, damit er das Ungeheuer zur Strecke bringt.

Schatztruhe Mons

Vor 14 Jahren hat der Männerzirkel, der die Rollen im Lumeçon genannten Drachenkampf besetzt, Ursula Heinrichs als erste Frau in den Kreis der Schauspieler aufgenommen. Der Kampf, sagt die 45jährige mit der dichten, roten Mähne, spiegelt die Stadtgesellschaft und vereinigt die Gegensätze. Der Heilige Georg stehe für Ordnung, für das Gute. Der Drache für Böses und Chaos. Deshalb drehe er sich gegen den Uhrzeigersinn. Die großgewachsene Darstellerin hat eine Weile gebraucht, sich in der Männerwelt der Drachenkämpfer Respekt zu verschaffen. Inzwischen, sagt sie lachend, „bin ich so etwas wie die Mutter der Kompanie“. Die Truppe sei eng befreundet und fiebere das ganze Jahr dem nächsten Stadtfest entgegen.
Die Rollen im Drachenkampf sind begehrt. Mindestens 30 bewerben sich auf einen Platz. Ohne einen Paten als Fürsprecher hat man keine Chance.

Olivier Crépin trägt als Homme Blanc, als weißer Mann eine Pfote des schweren Drachens. „Mit sechs wollte ich mitmachen, mit 18 durfte ich mich endlich bewerben und nun bin ich 15 Jahre dabei“, erzählt der Muskelprotz mit den masskrugdicken Oberarmen. Drei Mal die Woche trainiert Crépin, Leiter eines Supermarkts, im Fitnessstudio. Dazu kommen die Proben. Für ihn ist das Stadtfest „Identität, Heimat, die Nähe zu Freunden und der Stolz auf unsere Stadt“. Manche „weinen, wenn sie nach 25 Jahren wegen der Altersgrenze nicht mehr mitmachen dürfen.“

„Eine Truhe voller, versteckter Schätze“, nennt Stadtführerin

Catherine Stilmant Mons mit seinen versteckten Stadtvillen reicher Bürger und Ordensschwestern. Rund um die Grande Place, den Marktplatz mit seinem gotischen Rathaus und den verzierten Fassaden aus fünf Jahrhunderten sind zahlreiche historische Häuser erhalten geblieben – jedes genau fünf Meter breit. 

 

Bis ins 18. Jahrhundert bemass sich die Steuer für die Besitzer nach der Breite des Gebäudes. So türmte man Stockwerk um Stockwerk auf schmale Fundamente. Innen führen schulterenge Holztreppen steil nach oben. Große Menschen müssen den Kopf einziehen, um sich nicht an den niedrigen Decken mit den dunklen Holzbalken zu stoßen. Draußen gehen sie dann wieder erhobenen Hauptes, die stolzen Montois.

 

χ Robert Fishman

 

 

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