Sibirien, Mongolei, Peking – mit Baby
Zugrunde liegt eine simple Erkenntnis: Unglückliche Eltern erziehen keine glücklichen Kinder. Die Konsequenz daraus ist weit komplizierter. Auf der Suche nach stimmigen Antworten für ein zeitgemäßes Familienmodell begibt sich die Münchnerin Julia Malchow mit ihrem 10 Monate alten Baby Levi auf eine abenteuerliche Reise.
Dieser Ansatz hat durchaus das Zeug zu polarisieren. Selbst wer eben noch als Globetrotter durch die Welt gereist ist, Gefahren gemeistert, Unbekanntes entdeckt, vielleicht sogar sein Leben bei extremen, sportlichen Aktivitäten riskiert hat, kommt an seine Stunde null: der Moment, an dem man die Verantwortung für ein neu geborenes Leben übernimmt. Mit überraschender Selbstverständlichkeit werden plötzlich die spießigsten Glaubenssätze hervorgeholt. Unreflektiert gilt, was zwar in der Vergangenheit auch schon nicht funktioniert hat, aber als ungeschriebenes Gesetz zu gelten scheint. Der eigene Leistungsanspruch ist schnell definiert und die Ernüchterung ob der eigenen Unfähigkeit, diesen Anspruch abrufen zu können – oder zu wollen –, ist vorprogrammiert.
Julia Malchow, Autorin, Unternehmerin, Globetrotterin, ist auf der Suche nach einer Lösung. Als weitgereiste, selbstständige und unabhängige Frau braucht sie Alternativen. Alternativen zu Kitaöffnungszeiten, Stundenplänen für Kleinkinder und der paradoxen, multiplen Persönlichkeit aus Mutter, Unternehmerin, Partnerin, Freiheitsliebenden. Der Anspruch an eine dieser „Persönlichkeiten“ steht in beinahe unvereinbarem Gegensatz zur jeweils anderen.
Ihr Ansatz zur Lösungssuche ist klar – eben der gleiche wie so oft in ihrem Leben zuvor: Reisen.
Die Entscheidung, mit der Transsibirischen Eisenbahn bis in die Mongolei und schließlich weiter nach Peking zu reisen, ist gefasst. Eine interessante Frage der Perspektive: Zuvor mit Rucksack und ohne jeglichen Komfort an die entlegensten Orte der Welt gereist, sieht Julia Malchow in der Transsibirischen Eisenbahn die komfortable Fortbewegung mit „Chauffeur“ und Verpflegungsstation in einem. Ihrer Einschätzung, ausschließlich durch politisch stabile Länder zu reisen, würde vielleicht der ein oder andere widersprechen wollen.
Die Reaktionen auf Ihren Entschluß finden einen Konsens: Mut!
Der dehnbaren Bedeutung dieses kleinen Wortes kann Julia jedes Mal nachspüren, wenn es ausgesprochen wird (und sie wird es auf ihrer Reise noch oft zu hören bekommen). Von purem Leichtsinn über Naivität, Verantwortungslosigkeit und Wahnsinn bis hin zu Neid, Solidarität, Bewunderung und Respekt. Manchmal sogar mit wachsender Neugier und einer tief verstandenen Sehnsucht nach Antworten/Lösungen. Lösungen für Lebenskonzepte, derer sie so vielen begegnet auf ihrer Reise und die doch eine ähnliche Wurzel haben. Menschen auf der Suche nach sich selbst, auf der Suche nach ihrer Stärke und ihrer Schönheit, auf der Suche nach Erfüllung und Kraft. Auf der Suche nach Optionen, ein selbstbestimmtes Leben zu gestalten, eine erfüllte Beziehung mit sich selbst und mit anderen einzugehen.
Und sie kommen doch, die Zweifel. Das bürgerlich-spießige Über-Ich beschert ihr eine unruhige Nacht vor der Abreise. Aber diese Reise hat ja schon fast etwas Missionarisches.
Akribisch war Julia Malchow die Beziehungskonzepte in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis durchgegangen. Das zumindest für sie Passende war leider nicht darunter.
Nun sitzt sie in ihrem Abteil und das monotone Rattern der Transsibirischen Eisenbahn wird sie fortan begleiten. Bei ihren Begegnungen mit fremden Kulturen und Ritualen genauso wie mit der schier endlosen Landschaft aus an sich bis in die Unendlichkeit aneinander reihenden Birken.
Andererseits funktioniert das Prinzip doch recht einfach. Frei nach dem Motto „we are someone‘s daughter, we are someone‘s son“ gibt es auf der ganzen Welt Mütter, Väter, Söhne und Töchter. Und jeder trägt seine eigene Geschichte bei sich. Wie stark die Solidarität unter Müttern ist, lernt Julia Malchow genauso kennen wie die Sehnsucht der jungen Menschen, die es aus den verschiedensten Motivationen in die Welt hinaus treibt. Dabei genießt sie – man möge mir den Ausdruck verzeihen – einen gewissen „Welpenschutz“. Eine junge Mutter alleine mit ihrem Baby im Arm macht nicht nur neugierig, sie stellt auch keinerlei Bedrohung dar. Ihr Sohn Levi funktioniert geradezu als „Türöffner“ und Kommunikator. Und Julia Malchow stellt fest: Auf „Levianisch“ lässt es sich quer durch alle Kulturen erstaunlich präzise kommunizieren. Sie stellt auch fest, dass Levi seinen eigenen, kleinen Lebensrhythmus hat und wie gut dieser auch ihr tut, wenn sie sich darauf einlassen kann. Vielleicht ist das ein erster Schlüssel für ihr getaktetes Leben in München.
Überhaupt entstehen die intensivsten Momente der Reise an ihren Ruhepunkten. Dann, wenn scheinbar nichts passiert. Keine touristischen Highlights oder Programmpunkte. Wenn sie sich und Levi den Raum gönnt, die Dinge in ihrem Rhythmus passieren zu lassen. Wenn sie dazu nicht die innere Kraft findet oder Zweifel an dem gesamten Unterfangen als solches aufkeimen, greift sie auf einen kleinen Trick zurück: Musik laut aufdrehen und tanzen.
Und so reiht sich eine Begegnung an die andere. Es entstehen kleine Gemeinschaften, wie mit den Mitreisenden in den angrenzenden Zugabteilen oder den Dorfbewohnern am spärlich besiedelten Baikalsee. Immer wieder sind es Frauen, die sie willkommen heißen und die beiden Reisenden in ihren Alltag integrieren. Je länger die Reise andauert und umso weitläufiger die Landschaften werden, desto klarer formulieren sich die Antworten.
Mit diesem Abstand mutet so manche europäische Reisegruppe etwas skurril an. Wenn sie von resoluten, russischen Touristenführern in kleinen Gruppen und perfektem Survival-Outfit in militärischem Ton durch Sibirien getrieben werden. Die vermeintliche Gefahr des „wilden Ostens“ soll durch diese Gruppenbildung vermindert werden.
Doch Freiheit ist nicht organisierbar, weiß Julia Malchow zu berichten. Und auch wenn Freiheit im Kopf beginnt, möchte sie diese doch physisch erleben. So wird ein Tagesausflug auf einem Karren, der von einem mongolischen Yak im immergleichen, monotonen Geschaukel durch menschenleere Steppenlandschaften gezogen wird, zu einem spirituellen Schlüsselmoment. Ein Abschnitt aus Julia Malchows Buch „Mut für Zwei“ legt davon Zeugnis ab:
„Das Leben mit Levi auf Reisen ist für mich leichter als der Alltag mit Levi in München, weil es auf Reisen keinen Alltag gibt, den ich meine, organisieren zu müssen. …
Meine freiheitliche Seele braucht ein freiheitliches Lebensmodell, sonst stirbt sie. Und ein freiheitliches Lebensmodell hat keinen festen Rahmen.
Kann keinen festen Rahmen haben. Es ist flexibel. Es passt sich an. An mich. Und uns. Nicht umgekehrt. …
Ich kann nicht einseitig lieben. Weder Orte noch Menschen. Noch mich selbst. Und ich kann mich nur lieben, wenn ich so lebe, wie ich bin. Und das gelingt mir unterwegs auf dieser Reise mit Levi. Ich lebe hier mein Leben.“
Im krassen Widerspruch zu der unendlichen Einsamkeit der mongolischen Weiten ist Julias letzte Reisestation die pulsierende Megametropole Peking. In der Anonymität und der von ruhelosem Konkurrenzdruck geprägten Atmosphäre eines ständigen Wandels wird die gerade gefundene Erdung auf eine Belastungsprobe gestellt. Authentische Kontakte zur Bevölkerung sind hier wesentlich schwieriger herzustellen als bei der ländlich geprägten Bevölkerung in der Mongolei oder Sibiriens. Aber gerade in dieser menschenunfreundlichen Wirklichkeit wird ihr auch klar, dass sie selbst der einzige Mensch ist, der sie einschränken kann. Und nicht nur wegen der Schwierigkeit im europäisch-chinesischen Kulturdialog weiß sie, dass ihr Levi eine zufriedene und starke Mutter braucht, um ein gesunder Mensch zu sein.
Tobias Vetter
Literaturempfehlung:
Julia Malchow
MUT FÜR ZWEI
Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt
Piper Verlag
ISBN 978-3-89029-426-1
19,90 €