„Das Wenige, das du tun kannst, ist viel“
Albert Schweitzer
Ich hatte eine Position, ich habe zugehört, ich musste meine Sichtweise revidieren. Vor mir sitzt Inge Bell, Unternehmerin und Menschenrechtsaktivistin. Ein Gespräch über heikle Themen und warum Engagement, wenn es im Mantel von emotionaler Intelligenz und politischer Bildung daher kommt, einfach entwaffnend ist.
Der Fall der Mauer als Initialzündung
Man könnte glauben, dass es nur ein intensives Schlüsselerlebnis braucht, um einem Leben eine neue Richtung, eine Aufgabe, vielleicht sogar einen Sinn zu geben. Das 1989 die Berliner Mauer fiel und im Dezember des gleichen Jahres, der rumänische Präsident Nicolae Ceaușescu hingerichtet wurde, reichte für Inge Bell zumindest aus, ihr Physik- und Elektrotechnikstudium zu beenden, um sich fortan der Slavistik und der osteuropäischen Geschichte zu widmen. Selbst in Rumänien geboren und Tochter einer nach Westdeutschland geflüchteten Mutter, war die Vergangenheit plötzlich präsent und eine Aufarbeitung vielleicht nicht nur spannend, sondern auch überfällig.
Inge Bell bereist die osteuropäischen Staaten und bezieht schließlich eine Wohnung in Sofia, wo sie neben russisch und rumänisch, auch bulgarisch lernt. Der Übergang vom Kommunismus zum Raubtierkapitalismus war nicht einfach nur ein Systemwechsel, sondern die Zeit der Privatisierungen, einer galoppierenden Inflation, blühender Korruption, sowie dem Beginn organisierter Kriminalität. Und dann war da noch das merkwürdige Phänomen der Elitenkontinuität. Das am eigenen Leib zu erleben war berauschend, die wilde Ungewissheit über das politische Morgen vitalisierend. Doch die Ernüchterung ließ nicht lange auf sich warten.
Seit 1997 ist Inge Bell im Auftrag des Bayerischen Rundfunks unterwegs, fertigt Wirtschafts- und Sozialreportagen an. Nach einem Tipp besucht sie ein bulgarisches Behindertenheim und wird konfrontiert mit der hässlichen Seite der realsozialistischen Regime Osteuropas. Ähnlich wie in der NS Ideologie gibt es im Kommunismus keine „Behinderte“, sie werden aus dem Blickfeld der Gesellschaft verbannt, die „Heime“ werden tief in Gebirgstäler oder unzugänglichen Zonen-Randgebiete gebaut, die Menschen dort wie Tiere gehalten. Wer sich an die Bilder erinnert, die nach dem Fall der Mauer in rumänischen Waisenhäuser aufgenommen wurde, weiß, wie der Kommunismus mit „nicht funktionierenden“ Personen umging. Inge Bell erlebt die Verlegung geistig und körperlich behinderter Mädchen. Sie werden von der Pritsche eines LKWs auf den Beton gestoßen. Kniee und Beine platzen auf. Geschrei. Die Mädchen hatten sich hübsch gemacht, weil man ihnen erzählte, sie kommen in ein schönes, neues zu Hause. Ihre Haare werden geschoren, sie werden noch auf dem Betonboden kalt abgespritzt und wie Vieh in ihre Behausung gezerrt. Die Lebensumstände der behinderten und verwahrlosten Menschen sind mehr als unwürdig.
Es kommt zu Missbrauch, Misshandlung und Erniedrigungen – von den sanitären und existenziellen Umständen einmal ganz abgesehen. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die Bilder, die damals von der ARD ausgestrahlt wurden. Es wird nicht nur Inges Bell erste große Reportage, sondern auch ein Wendepunkt in ihrem Leben. Denn wenn ich schrieb, dass es wohl nur ein intensives Schlüsselerlebnis benötigt, um eine neue Lebensrichtung einzuschlagen, dann ist das nur die halbe Wahrheit. „Zuerst bin ich Mensch, dann Journalistin“. Das ist nun Inge Bells Grundsatz. In diesen Tagen des Umbruches, hat sie ihn für sich definiert. Eine Veränderung beginnt mit einer Entscheidung! Sie gründet ihre erstes humanitäres Hilfsprojekt.
Die meisten Journalisten halten es für professionell, nur zu beobachten, zu berichten, sich NICHT einzumischen. Sie meinen es diene der Objektivität. Für Inge Bell ist es keine intellektuelle Entscheidung, es ist kein Abwägen, es ist ein Schritt großer innerer Klarheit. Sie erklärt es sei „normal“. Ich erwidere, dass sei es nicht – und es wird nicht das letzte mal während unseres Gespräches gewesen sein, dass ich sie darin korrigiere.
Deutsche KFOR Soldaten und minderjährige Zwangsprostituierte
1999, Kosovo. Über 1200 deutsche KFOR-Soldaten sichern den Friedenseinsatz. Ihre Mission: Aufbau und Schutz einer neuen, friedlichen Zivilgesellschaft. Im Land sind Tausende Soldaten und Auslandskorrespondenten diverser Nationen – vorwiegend männlich. Zu gleicher Zeit ist Inge Bell in Bulgarien unterwegs. Es geht um eine Reportage über straffällige Jugendliche. Vielleicht beschreibt Ohnmacht am ehesten das Gefühl, das sie empfindet, als ihr die wahren Hintergründe bekannt werden. Die einsitzenden Mädchen sind Opfer von Menschenhändlern geworden. Sie erfährt von bestialischen Vergewaltigungen, Penetration mit Baseballschlägern und Umständen, die sich mit Sklavenhandel vergleichen lassen. Tatsächlich wurden die Mädchen entführt und illegal in westeuropäische Staaten zur Prostitution gebracht. Dort aufgegriffen wurden sie von den Behörden als illegal Einreisende deklariert und zur bulgarischen Polizei überstellt. Oft genug um durch lokale Polizisten erneut vergewaltigt zu werden. Sie ist entsetzt ob der gewalttätigen Details und vor allem, dem Alter der Mädchen. Die meisten sind zwischen neun und vierzehn Jahre alt. Eines der Mädchen sucht den Kontakt zu Inge Bell, als sie hört, dass sie eine Deutsche sei. Sie hat die Handynummer eines deutschen Freiers in der Tasche. Einer, wie sie sagt, der gut zu ihr ist, wie ein Freund. Inge Bell staunt nicht schlecht, als sich ein deutscher KFOR-Soldat meldet, als sie die Nummer wählt. Jetzt hat sie eine Spur. Sie reist in den Kosovo und wird unwirklich schnell fündig. Es ist nicht etwa, dass sich das, was sie erleben muss im Verborgenen abspielt. Für die einheimischen Clans ist der Handel mit Kinder nur Teil einer funktionierenden Infrastruktur, für den unerschöpflichen Markt an Waren. Abnehmer sind die vielen Soldaten. Mit einer „Ganovenehre“ werden Deals mit lokalen Politikern und der Polizei geschlossen. Kein Korrespondent berichtet. Was ist hier los? Wie kann es sein, dass hunderte minderjährige Zwangsprostituierte von Soldaten der Friedenstruppen missbraucht werden? „Unsere deutschen Jungs vergreifen sich an Kindern?“ entfährt es ihr. Es ist wie eine joviale Männerverschwörung, ein Bündnis, bei dem alle dicht halten. Die Reportage über „deutsche KFOR-Soldaten auf dem Babystrich“ schlägt umgehend hohe Wellen und findet internationale Beachtung.
Im Kampf gegen Prostitution
Für Inge Bell ist nun klar, Journalismus wird nur ein Teil ihrer zukünftigen Arbeit sein. Wo alle wegschauen, muss gehandelt werden. Schnell sucht sie eine Metaebene um strukturell auf ihre Vision einer besseren Welt hinzuarbeiten. Zahlreiche Hilfsprojekte vor Ort laufen weiter oder werden neu initiiert. Zwischen 400.000 und 1.000 000 Prostituierte gibt es schätzungsweise alleine in Deutschland. Über 90% sind Frauen aus osteuropäischen Ländern, die über Menschenhändler eingeschleust werden.
„Prostitution ist Gewalt gegen Frauen. Sie ist mit der Menschenwürde nicht vereinbar.“, so Inge Bell.
Ich schaue sie etwas ratlos an. Bisher habe ich Prostitution für eine sinnvolle Sache gehalten. Ich war liberal, begrüßte die deutsche Gesetzgebung, die für mehr Transparenz und Sicherheit eingetreten ist. Dachte, wir müssen
Sexualität enttabuisieren, wir brauchen eine neue Aufklärung, wir müssen Sex aus der Ecke des Schmuddels und der Kriminalität befreien. Wir müssen die Frauen emanzipieren und ihre Rechte stärken. Ich frage sie nach ihrer Vision - „Eine Welt ohne Prostitution.“ Anscheinend hat sich der Ausdruck von Ratlosigkeit auf meinem Gesicht nicht wesentlich verändert, denn sie führt aus: „Wir (bei Terre des Femmes e.V.) gehen davon aus, dass über 99% der Frauen, die als Prostituierte in Europa tätig sind, unter Zwang und Androhung von Gewalt handeln. Die Idee der freien, unabhängigen und selbstbestimmten Prostituierten sei ein Mythos, da er nur auf etwa 0,5% aller Prostituierter in Europa zutreffe. Zivilisierte Gesellschaften haben die Sklaverei genauso überwunden, wie die Kinderarbeit und die Todesstrafe. Der nächste Schritt ist die Überwindung der Prostitution.“
Tatsächlich fiel die Liberalisierung der deutschen Gesetzgebung in Bezug auf Prostitution zeitgleich mit der EU – Osterweiterung zusammen. In Schweden wurde bereits vor zwanzig Jahren das „nordische Model“ eingeführt. Und während Deutschland zum „Bordell“ Europas mit osteuropäischen Frauen heranwuchs, übernahmen Länder wie Irland, Nordirland, Island, Kanada, Frankreich, Israel und in Kürze Spanien, das schwedische Vorbild. Ausgehend von der Erkenntnis, dass Prostitution mit der Menschenwürde nicht vereinbar ist, fusst es auf drei Säulen. 1. Die Anerkennung der Tatsache, dass Prostitution Gewalt an Frauen ist. 2. Das Schaffen von echten Ausstiegshilfen. 3. Entkriminalisierung von Prostituierten und Kriminalisierung von Freiern. In einer vor kurzem getätigten Umfrage innerhalb der schwedischen Bevölkerung zeigt diese Maßnahme breite, gesellschaftliche Akzeptanz.
Über 80% der Frauen und 70% der Männer gaben an, dass Ihrer Meinung nach, Prostitution menschenunwürdig sei.
Dass diese Fakten bisher an mir vorbeigegangen sind wundert Inge Bell nicht weiter. Das läge nicht nur an unserer politischen Landschaft, sonder vor allem auch an unserer öffentlichen Gesprächskultur. Sie erzählt von Talkshows und Disputen, die nach dem gleichen Muster ablaufen. Von jeder Position wird ein Gast geladen, die dann die immer gleichen Klischeés abspulen. Natürlich sitzt dann da auch die Vorzeigeprostituierte, die von einem selbstgewählten Berufsbild spricht – nur um hinter den Kulissen von Ihren Gewalterfahrungen zu erzählen. Eine Gewichtung, sowie ein Realitätsabgleich findet nur selten statt. Immerhin sitzen einige der ehemaligen Talk Showgäste mittlerweile hinter Gitter. So wurde der Besitzer des Kölner Bordell „Pascha“, Hermann Müller, wegen Steuerhinterziehung eingesperrt. Für Terre des Femmes übrigens ein Ärgernis, dass es bis lang nicht möglich war, solche Betreiber wegen Menschenhandels zu verurteilen. Dass sich die politische Windrichtung dreht, zeigt ein jüngstes Urteil gegen die Betreiber des Stuttgarter Bordells „Paradise“. Erstmals konnten diese wegen Menschenhandel rechtskräftig verurteilt werden.
Doch der Kampf gegen Klischées ist langwierig. Da wird nicht nur immer und immer wieder der Mythos vom „ältesten Gewerbe der Welt“ herbeizitiert. Dabei entstand Prostitution mit dem Patriarchat und ist keineswegs eine menschliche Universalie. In Kulturen in denen Frauen eine gleichberechtigte Rolle belegten, kam Prostitution nicht vor. (z.B. bei den indigenen Völkern Nordamerikas, wo die Prostitution mit der Sklaverei einherging, den indigenen Völkern Polynesiens und Ostindiens, sowie in China und Ägypten). Eine andere Idee ist die des „Dampfkessels“. Als ob ein Mann zur Unberechenbarkeit mutiert, wenn er keinen regelmäßigen Sexualkontakt pflegen kann. Doch welches Männerbild liegt da zugrunde? Vielleicht ist da schon das Wort „Sexualtrieb“ irreführend. Denn das Wort „Trieb“ bezieht sich auf Selbsterhaltung – wie Schlafen, Essen und Trinken. Sexualität dagegen dient nicht der Selbsterhaltung, sondern der Arterhaltung und ist daher ein Bedürfnis, aber kein Menschenrecht.
Der Wunsch nach Sexualität ist wahrscheinlich genauso menschlich, wie die naive Vorstellung von der selbstbestimmten, freien Prostitution.
Inge Bells Vision einer Zukunft ohne Prostitution mag radikal anmuten, fusst aber auf einer klaren Erkenntnis: die Würde des Menschen ist unantastbar. Die sicherlich mögliche, freie Berufswahl zur Prostituierten, bleibt angesichts der faktischen Zahlen, ein alibihaftes Theoretikum. Sich hinter dieser Annahme zu verstecken, braucht man als Mann also nicht mehr. Es gilt einmal mehr zu verstehen, dass ein Bedürfnis zwar eine Handlung erklärt, sie aber nicht rechtfertigt. Einmal mehr müssen wir hinterfragen, in welcher Art Gesellschaft wir leben möchten. In einer aufgeklärten Gesellschaft ist eine aufgeklärte Sexualität notwendiger denn je. Wir müssen selbst lernen und unseren Kindern lehren, dass erfüllte Sexualität ein Dialog darstellt. Das respektvolle Annähern von Menschen, die Ihre Bedürfnisse formulieren, aber den Wunsch, den Raum und das Sein des jeweiligen Gegenüber respektieren. Eigentlich eine schöne Definition für erfüllten Sex.
• Tobias Vetter
Inge Bell ist Medienunternehmerin, Menschenrechtsaktivistin und Management-Coach. 2007 wurde sie für ihr ehrenamtliches Engagement mit dem Preis „Frau Europas“ ausgezeichnet. 2012 verlieh ihr Bundespräsident Gauck das Bundesverdienstkreuz am Bande. Seit 2017 ist Inge Bell stellvertretende Vorstandsvorsitzende von TERRE DES FEMMES e.V., Deutschlands größter Frauenrechtsorganisation.
Sie arbeitete als TV- und Radiojournalistin für die Auslandsmagazine der ARD, der dritten Programme, für arte und ORF. Die studierte Slawistin und Osteuropahistorikerin spezialisierte sich in ihrer Berichterstattung auf die politische und soziale Situation in Südosteuropa. Über ihre journalistische Tätigkeit hinaus engagiert sich Inge Bell für Menschen- und Frauenrechte. Monatelange Aufenthalte auf dem Balkan ermöglichten ihr tiefe Einblicke in politische und gesellschaftliche Realitäten und Missstände. So deckte sie für den ARD-Weltspiegel den Missbrauch minderjähriger Zwangsprostituierter durch deutsche KFOR-Soldaten im Friedenseinsatz in Mazedonien auf, berichtete über Kinderpornographie und über schwerste Menschenrechtsverletzungen an geistig behinderten Frauen in Bulgarien. Durch ihre Vermittlung und Vernetzungsarbeit entstanden verschiedene Hilfsprojekte. Bis heute betreut sie viele dieser Projekte, in denen Mädchen und Frauen in Not geraten, persönlich. Als Vortragsrednerin und Mitglied in verschiedenen Menschen- und Frauenrechtsorganisationen steht sie für Aufklärung über verübtes Unrecht an Frauen.