„Wenn wir es recht überdenken, so stecken wir doch alle nackt in unseren Kleidern.“
Heinrich Heine
Besser hätte man es wohl kaum ausdrücken können als die freie Enzyklopädie „Wikipedia“ – wir zitieren wörtlich: „Das subjektive Empfinden von Nacktheit kann neben dem Fehlen von Kleidung auch aus dem Fehlen von Haaren oder gewohnheitsmäßig am Körper getragenen Gegenständen wie Waffen, Schmuckstücken, Perücken oder Schminke resultieren.“ Das subjektive Empfinden von Nacktheit, das Gefühl schutzloser Auslieferung, es steht von je her dem Blickwinkel des Betrachters gegenüber: So wie sich die oder der Nackte mehr oder weniger ohnmächtig dem Schauenden ausgesetzt sieht, mag dieser Schauende, wenn er denn selbst bekleidet ist, umgekehrt ein Gefühl von plötzlicher Überlegenheit verspüren, ob er nun zufällig oder willent-lich-voyeuristisch zum „Hingucker“ geworden ist.
Ein archaischer Reflex wird da offenbar lebendig, der ursprünglich etwas mit Jäger und Gejagtem zu tun hatte. Aus dem Kontrast zwischen nackt und bekleidet, zwisch-en ungeschützt und geschützt entsteht eine Art Spannungsmoment, mit dem die verschiedenen Kultur-Epochen schon immer virtuos zu spielen verstanden: Erst bedeutete Nacktheit nichts anderes als reine Natureingebundenheit, später, in der christlich-abendländisch Morallehre, wurde der Begriff der „Unschuld“ mit dem nackt Sein assoziiert (und prompt tabuisiert) – zwischendurch aber wurde immer schon tüchtig kokettiert mit der körperlichen Nacktheit des Menschen: Diese wurde zum Medium schlechthin für das stetig verfeinerte Raffinement der Verhüllung, sie wurde als Mittel der Provokation benutzt, gar zum Lebensprinzip erhoben. Nacktheit konnte in bestimmtem Zusammenhang ein komplettes politisch-weltanschauliches Statement transportieren bzw. ersetzen:
Ecce homo – schau, ein Mensch, in diesem Fall dazu noch ein nackter!
Die Freikörper-Kultur des späten 19.Jahrhunderts, als just im erzkatholischen Bayern plötzlich bärtige, textillose Männer mit ebenso textilfreien Frauen und Kindern erste Waldkommunen bildeten, sie war eine frühe Vorlage sowohl für den von Leni Riefenstahl professionell ins Bild gesetzten Körperkult der Nazis wie für die barbusigen Demonstrantinnen und ungenierten „Lass-baumeln“-Vertreter der Studentenproteste von 1967 ff. . Die Nachahmer an den weniger verklemmten DDR-Stränden und den brav definierten Oben-ohne-Zonen von heute haben auch etwas damit zu tun, nur fehlt mittlerweile fast völlig der Touch des Subversiven dabei – 2011 hat der „Touch“ eher was mit Berührung durch das Einreiben mit möglich viel Sonnenöl zu tun.
Mag sich Nacktheit längst weitestgehend ungeniert ausleben lassen – im öffentlichen „Super Illu“-Raum wie im Privaten -, so ist sie doch immer noch für den einen oder anderen Skandal gut: Bei der „Superbowl“-Gala 2004 beispielsweise gab es in den USA einen nationalen Aufschrei, als Popstar Justin Timberlake am Ende eines Show Act in der Halbzeitpause auf offener Bühne seiner Gesangspartnerin Janet Jackson das schwarze Lederbustier aufriss und deren Brust entblößte – Schadenersatzforderungen der Werbe-Industrie in Millionenhöhe gegenüber dem TV-Sender „CBS“ folgten. Nacktheit taugt also nach wie vor als ebenso unverhoffter wie willkommener Tabu-Bruch:
Sie kann bis heute ein jähes Abweichen von der Konvention, die mehr oder weniger kalkulierte Norm-Verletzung bedeuten.
Dass eine unübersehbare Sehnsucht nach unverstellter Nacktheit in allen Zivilisationen immer vorhanden war und bis heute existiert, hat zweifellos mit der Sehnsucht des Menschen nach Natürlichkeit zu tun, wenn man will, auch mit dem gefühlten (oder von interessierter Seite eingeredeten) Verlust der Unschuld. Im Umkehrschluss wird die aufgedrängte, mit Absichten verbundene Form von Nacktheit und Nudismus vielfach als „vulgär“ und „empörend“ empfunden: Da macht jemand genau das, was man sich selbst nicht traut, und das womöglich auch noch öffentlich und publikumswirksam – unerhört! „Nacktheit“ möchten die Leute nicht unbedingt um die Ohren gehauen bekommen, sie sollte einem schon gar nicht so aufdringlich ins Auge springen wie an einem Strandabschnitt, wo Bekleidete und Unbekleidete irgendwie miteinander klar zu kommen versuchen und ausgerechnet die unappetitlichsten Vertreter der Spezies beim Textil am meisten einsparen. Freilich ist Schönheit immer nur etwas Subjektives, Nacktheit aber ist fraglos etwas Objektives – „nackte Tatsachen“ können zuweilen richtig weh tun. Weil vor allem Ästheten und Mode-Designer darum wissen, machen sie sich seit dem ersten Feigenblatt für die Olympioniken der Antike Gedanken, wie sich mit dem Phänomen „Körper“ wohl am besten umgehen ließe: statt einfach Rundungen und Wölbungen zwar verhüllt, aber „1:1“ zur Schau zu stellen, spielen sie lieber mit der Andeutung von Konturen, geschicktes Verhüllen ist längst an den Platz plumper Präsenz getreten. Manche Modeschöpfer arbeiten auch mit halbtransparenten Stoffen, um ihre subtile Botschaft von Körperlichkeit durchscheinen zu lassen – sie geben dem Betrachter also eine Aufgabe mit auf den Weg, ein vergnügliches Rätsel des Schauens.
Wenn wir uns auf frühere Kulturen besinnen, dann hatte Nacktheit noch ganz andere Konnotationen: Bei den Römern galt sie als Ausdruck asketischer Anspruchslosigkeit und nicht als Ausdruck sexueller Empfindungen – sie hatte einfach praktische Gründe.
Der Schriftsteller Cato, der Ältere, berichtete anerkennend, dass der Prototyp des tugendhaften Römers im Sommer nackt arbeite.
Die keltischen Krieger sollen der Überlieferung nach – genau wie die Frauen-Krieger von Dahomey und die legendären Amazonen in anderem Zusammenhang – gar nackt gekämpft haben, wenn sie nicht gerade zwecks Abhärtung ebenso nackt in Flüssen und Seen badeten. Die ambivalente Haltung gegenüber dem Nacktsein entwickelte sich erst mit dem Christentum, als die Keuschheit, die Beherrschung des Sexualtriebes zur Maxime erhoben wurde: Die institutionalisierte Kirche erklärte Nacktheit zu einer Form der Blasphemie, der Auflehnung gegen die vermeintlich gottgegebenen Herrschaftsverhältnisse – und hatte doch nichts anderes im Sinn als das Zementieren der eigenen Macht. Wer nackt in Erscheinung trat und damit gegen die Kleiderordnung verstieß, der verkörperte buchstäblich das Gegenteil von angemaßtem Ornat, von Investitur: Einfachheit und absichtslose Unschuld nämlich – eine Provokation, die sogar in „Der Name der Rose“ noch thematisiert wurde.
Nacktheit war im ewigen Spiel von Schuld und Sünde eine Waffe: „Als solche darf sie nicht gleichgesetzt werden mit physischer Schamlosigkeit“, definierte Papst Johannes Paul II. noch im 21.Jahrhundert. Er sagte aber auch: „Der menschliche Körper ist nicht an sich beschämend, noch sind es sinnliche Reaktionen aus demselben Grund und menschliche Sinnlichkeit im Allgemeinen.“ Sogar der Papst konnte sich also an einem schönen Körper erfreuen, solange diese Freude „keine negative Rolle in Hinsicht auf den Wert einer Person spielte“. Noch die spießbürgerlichen Moralvorstellungen der Adenauer-Ära hatten einen gewissen Automatismus, wenn es um das Ausgrenzen leicht bekleideter Damen aus dem gesellschaftlichen Konsens ging: Die gleichen oberflächlich Entrüsteten trieben indes die Auflagen von fleischfreudigen Illustrierten wie „Quick“ und weiteren Busen-Blättern von den fünfziger bis in die siebziger Jahre hinein tüchtig in die Höhe – dann hatte „man(n)“ sich offenbar erst mal satt gesehen, die Verkaufszahlen stagnierten.
Auch der weibliche Superstar der europäischen Sixties, Brigitte Bardot, verdankte seine Popularität (bestimmte sabbernde Gazetten kalauerten damals sogar etwas von „Popolär“) nicht zufällig bestimmten Filmen wie „Und ewig lockt das Weib“ und nicht so sehr ihren durchaus beachtlichen Qualitäten als Schauspielerin: Die „Bardot“ galt mit ihrem Schmollmund und ihren üppigen Fast-Nackt-Szenen als wandelnde Grenzüberschreitung des bisher Gewohnten. Vor allem die deutschen Männer krieg-ten da rote Ohren, waren sie doch im Film bis in die späten „Fünfziger“ hinein nur ein einziges Mal mit unverhoffter Nacktheit konfrontiert und – viel zu kurz – optisch verwöhnt worden: Mit Hildegard Knef in „Die Sünderin“. Den Nachholbedarf der deutschen Kinogänger zumeist männlicher Prägung bedienten später der Aufklärer Oswald Kolle und, weniger seriös, dafür häufig aus der Schlüssellochperspektive, die „Schulmädchen-Reporte“. Es ist übrigens ein Märchen, dass immer nur Männer „gerne mal hingucken“ – auch Frauen erfreuen sich an gut gebauten Körpern, und das müssen auch nicht immer Männer-Körper sein. Es ist eine vermutlich nur kulturgeschichtlich zu erklärende Verengung und Beschränkung, dass das Körper-Objekt meist weiblich, der Betrachter meist männlichen Geschlecht ist. Mit (weiblicher? Schönheit bzw. der (männlichen?) Sehnsucht danach allein ist dies nicht zu begreifen.
Damit wären wir wieder beim Schauenden und dessen gewiss nicht immer lauteren Motiven: Die Enthüllungen, die er geboten bekommt, sind nicht immer nur „Genuss“, sie sind eigentlich auch ein Vertrauensgeschenk und eine Aufforderung, in angemessener Weise damit umzugehen. Seine Position nicht zu missbrauchen (schon gar nicht in pornographischer Manier), sondern vielmehr Bewunderung und Freude an einem schönen Körper zu zeigen, aber auch Respekt und Mitgefühl für die Verwundbarkeit und die Schutzlosigkeit eines nackten Menschen zu entwickeln, das ist die eigentliche „Aufgabe“ des Betrachters. Er oder sie hat es gar nicht so leicht, hier selber eine gute Figur zu machen – das ist wohl die nackte Wahrheit. Trotzdem: Viel Vergnügen beim Schauen!
Thomas Lochte