Es hat sich ein Fehler im Verständnis weiter Teile der „westlichen Welt“ eingeschlichen, der mich immer wieder verblüfft. Der Fehler, von dem ich spreche, bezieht sich auf den Gebrauch und das Verständnis des Wortes „Diskriminierung“ und die damit verbundene Selbst- und Weltsicht. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes geht zurück auf das lateinische Wort „discriminare“ und bedeutet im Wesentlichen „unterscheiden“. In diesem Sinne wird das Wort auch heute noch vor allem im wissenschaftlich-fachsprachlichen Zusammenhang gebraucht. Seit dem frühen 20. Jahrhundert wird das Wort zudem im Sinne von „Benachteiligung“ verwendet und mit dieser Bedeutung heutzutage von den Meisten gebraucht und verstanden. Dieser Bedeutungswandel wäre nicht weiter dramatisch, wenn nicht gleichzeitig ein Verlust der sehr unterschiedlichen beiden Bedeutungen des Wortes zu beklagen wäre. Eine Unterscheidung ist nämlich keineswegs dasselbe wie eine Benachteiligung. Indem ich zum Beispiel feststelle, dass eine Person blaue und eine andere Person grüne Haare hat, habe ich einen offenkundigen Unterschied benannt, aber dadurch natürlich niemanden benachteiligt.
Verallgemeinert gesprochen sind keine zwei Menschen – oder Gruppen von Menschen – jemals gleich. Sie werden immer größere oder kleinere Unterschiede hinsichtlich vielfältiger Attribute und Eigenschaften aufweisen.
Eine völlig andere Frage ist natürlich, ob Sie oder eine bestimmte Gesellschaft alle Menschen als gleichwertig erachten. Ebenso wie viele Andere vertrete ich die Ansicht, dass die moralische Entwicklung eines Individuums oder einer Gesellschaft daran bemessen werden kann, wie vielen anderen Menschen man diese Gleichwertigkeit zuerkennt; nur sich selbst, seiner Familie bzw. Stammesgesellschaft, seiner Nation, den Menschen gleichen Glaubens oder eben allen Menschen.
Die Gleichwertigkeit aller Menschen ist zunächst eine moralphilosophische Haltung, die man vertreten kann oder auch nicht. Was folgt aus dieser Haltung nun aber in der praktischen Umsetzung? Sicherlich nicht die Forderung, die oben erwähnten offensichtlichen vielfältigen Unterschiede zwischen Menschen bzgl. Aussehen, Intelligenz, Herkunft, Weltsicht, Vorlieben etc. zu leugnen. Die Gleichwertigkeit hebt sich ja gerade dadurch von der Gleichheit ab, dass sie für unterschiedlichste Menschen postuliert wird.
Wie steht es nun mit der Gleichbehandlung aller Menschen, kann sie ein Anspruch aus der Idee der Gleichwertigkeit sein? So verführerisch der Gedanke auch ist, so muss er doch dem Reich der Wohlfühl-illusionen zugesprochen werden.
Diese harte Realität kann jeder erkennen, der sich fragt, wer denn alle Menschen gleich behandeln soll. Es gehört zur Definition von Staaten, zwischen Staatsangehörigen und Nicht-Staatsangehörigen zu unterscheiden, politische Parteien werden gegründet um die Interessen einer umgrenzten Gruppe von Menschen zu vertreten, von der Angehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft verspricht sich der Anhänger einen Vorteil gegenüber Anderen. Dennoch wird von diesen Institutionen verlangt, dass sie alle gleich behandeln sollen. Dies würde aber deren eigentlichem Zweck widersprechen und somit ihre Aufhebung bedeuten. Ob dies wünschenswert wäre steht dabei auf einem völlig anderen Blatt.
Vollends abwegig ist es jedoch, wenn sich die Forderung nach Gleichbehandlung aller Menschen an ein Individuum wendet. Stellen Sie sich einen Menschen vor, der seine Familie, seine Freunde, seine Bekannten und alle anderen ihm begegnenden Menschen gleich behandeln wollte.
Allen gleich viel seiner Zeit widmen, allen die gleiche Emotionalität entgegen bringen und nicht zuletzt allen die gleiche materielle Zuwendung zukommen lassen. Dennoch bestimmt die Forderung nach absoluter Gleichbehandlung den öffentlichen Diskurs in unseren Breiten.
Als Teilhaber an unserer postmodernen, minderheits-sensitiven, gender-gemainstreamten, ökologisch-nachhaltigen, politisch korrekten Gesellschaft laufen wir also Gefahr tatsächliche Unterschiede aus falsch verstandener Ideologie zu verleugnen und die unmögliche Forderung der Gleichbehandlung aller an uns und unsere staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen zu stellen.
Leider ist das aktuelle Gebot zur Verleugnung wahrgenommener Unterschiede und die Ächtung der offenen Äußerung von authentischen Eigeninteressen und der unumgänglichen Bevorteilung nahe stehender Personen noch nicht das Ende des individuellen Elends, dass sich zwangsläufig aus dem Widerspruch aus gesellschaftlicher Forderung und persönlichem Empfinden ergibt.
Zusätzliches inner-psychisches Konfliktpotential ergibt sich aus dem Paradoxon, das sich aus der postmodernen Ideologie der Gleichwertigkeit ergibt. Hinter der offenen Forderung der Gleichwertigkeit steht die versteckte Annahme, dass die eigene Ideologie die bessere, also hochwertigere sei. Die eigene moralische Überlegenheit wird also gerade dadurch begründet, dass Gruppierungen als minderwertig diffamiert werden, die offen ihre Sichtweisen und Meinungen als überlegen bezeichnen.
Der Anhänger der postmodernen Weltsicht glaubt also wie alle Anderen auch, im Recht und moralisch überlegen zu sein, darf dies jedoch nicht offen zugeben. Die individuelle Auflösung dieser widersprüchlichen Ideologie aus dem expliziten „alle sind gleich (-wertig)“ und dem impliziten „ich bin besser“ ist nur möglich durch die Zugehörigkeit zu einer „benachteiligten Subgruppe“, für deren Rechte dann gekämpft werden darf. Durch die grundsätzliche – reale oder behauptete – Benachteiligung der eigenen Minderheit darf nun gesellschaftlich sanktioniert aus voller Kraft und mit allen Mitteln für das eigene Interesse gekämpft werden. Wer beim besten Willen keiner Minderheit angehört und nicht kreativ genug ist, sich etwas auszudenken, dem lässt unsere postmoderne Gesellschaft nur die Rolle des trotzigen Reaktionärs oder des reumütigen Täters in der masochistischen Selbstbezichtigung.
Der heilsamere Ausweg für alle Beteiligten bestünde allerdings darin, etwas Licht in die unbewussten Prozesse der Selbstverleugnung und die unmöglichen Forderungen zu bringen, die uns unsere aktuelle gesellschaftliche Ideologie abverlangt. Für bessere seelische Gesundheit gilt also wie seit mehr als Zweitausend Jahren: Erkenne dich selbst.
Dr. Alexander Noll leitet als Psychotherapeut eine Privatpraxis in Berlin und gibt Seminare und Workshops in ganz Deutschland.