Während in Deutschland mit Vorliebe lamentiert wird, fackeln unsere nordwestlichen Nachbarn nicht lange. Amsterdam trägt nicht nur den Titel Weltkulturerbe, sondern setzt mit mutigem Innovationsgeist auf ökologische Zukunftskonzepte.
Zunächst hatte ich mich ganz auf die kulturelle Vielfalt Amsterdams vorbereitet. Schließlich war Amsterdam in der goldenen Zeit des 17. Jahrhunderts zum führenden Handelszentrum Europas geworden. Mit dem Reichtum aus den Kolonien - allen vorweg Indonesien - und den Geldern des Diamantenhandels, wuchs der Lebensstandard genau wie der Sinn für die schönen Dinge und Künste. Europäische Juden, portugiesische Kaufleute und Kolonialhändler strömten in die schnell wachsende Stadt. Da Amsterdam in einem mit Flüssen durchzogenen Moorgebiet lag, wurden immer weitere Kanäle ausgehoben, um wertvollen Wohnraum zu schaffen. Genau wie in Venedig wurden die Häuser auf Pfählen errichtet. Im Laufe der Jahrhunderte mussten immer neue Inseln aufgeschüttet und Kanäle gegraben werden. In neuester Zeit werden ganze Gebäudekomplexe auf künstlichen Inseln gebaut oder auf Pfählen, die sich auf ein Fundament im Flussbett stützen. Alleine der neue Hauptbahnhof ruht auf 900 Pfählen. Wo viel Geld fließt, möchte der Staat natürlich mitverdienen. Versteuert wurde in Amsterdam die Fassadenbreite. Die findigen Kaufleute bauten schmale Häuser, die dafür umso länger und höher wurden. Das schmalste Haus misst gerade mal einen Meter Breite. Entlang der Grachten reihen sich Kaffees, Kunstgalerien und renommierte Museen - aber wie gesagt, trotz meiner Vorbereitung auf diese Kulturschätze, wurde ich unbeabsichtigter Weise gezwungen, mich mit zeitgenössischeren Problemen auseinander zu setzen.
Aufgrund eines Unfalls auf dem Mittleren Ring in München, erreichen wir gerade noch 45 Minuten vor Abflug den Schalter der niederländischen Fluglinie KLM. Die Rezeptionistin im Stewardessenkostüm konstatiert gelangweilt, dass ich 5 Minuten zu spät zum Check in wäre - Flug storniert. Da die beiden folgenden Maschinen ebenfalls ausgebucht sind und erste Termine in Amsterdam auf mich warten, treffen wir die Wahl mit dem Auto zu fahren.
Dem Jahrzehnte langen Versprechen folgend, die Autobahnen für uns schneller zu machen, bewegen wir uns tranceartig von Baustelle zu Baustelle. Eine Invasion aus LKWs verstopft die Autobahnen; es scheint tatsächlich ein auswegloses Unterfangen. Mit dem 10 stündigen Wahnsinn im Nacken, der Verstopfung der Metropolen München, Nürnberg, Frankfurt, Köln und Dortmund, sowie dem Bewusstsein, dass dies zwar meine einmalige, aber für zehntausende Fahrer tägliche Erfahrung ist, erreichen wir Amsterdam. Genau aus diesem Kontrast heraus wird deutlich, dass sich etwas grundlegend ändern muss. Das muss man den Niederländern lassen: sie haben nicht die Idee, dass sich was ändern muss, sondern sie haben etwas geändert. Und das radikal!
Amsterdam steht für Liberalität und Lebensqualität. Kurz gesagt bedeutet das für den Verkehr, den radikalen Wandel zu erneuerbaren Energien und Autofreien Innenstädten.
Und weil in Amsterdam der Tourismus Teil des Problems ist, wird dieser kurzerhand gleich mit in das Konzept einbezogen. Bis 2025 sollen sämtliche Busse elektrisch fahren. Selbst die Fähren, die übrigens größtenteils kostenfrei zu nutzen sind, werden auf Elektroantrieb umgerüstet. Taxiunternehmen erhalten bis zu 10.000 Euro Zuschuss für den Umstieg auf Elektrofahrzeuge, sowie privilegierte Parkplätze am Flughafen und Hauptbahnhof (Privathaushalte immerhin um die 5.000 Euro Zuschuss).
Der Parkraum in der Innenstadt wird konsequent verknappt und der gewonnene Raum für Fußgänger und Radler genutzt. Neue Parklizenzen, die man als Anwohner benötigt, werden bevorzugt an Halter von Elektrofahrzeugen vergeben. Bereits jetzt hat Amsterdam 1.500 Elektrotanksäulen in der Innenstadt. Man muss wissen, dass nur derjenige überhaupt eine KFZ Zulassung für Amsterdam bekommt, der einen Parkplatz vorweisen kann. Die KFZ Kosten wurden rigoros in die Höhe getrieben. Die Parkkosten bewegen sich zwischen 3.000 und 5.000 Euro pro Jahr. Wer als Gast nach Amsterdam kommt, zahlt in Parkhäusern zwischen 30 und 80 Euro pro Tag. Parallel wird das ohnehin schon gute Fahrradnetz weiter ausgebaut. Kuriere und Lieferdienste setzen ebenfalls auf Elektromobilität. Carsharingprogramme und innovative Anbieter wie Uber werden staatlich unterstützt.
Gegen das Problem der zunehmenden Touristenströme wurden ebenfalls interessante, politisch gesteuerte Maßnahmen getroffen. So dürfen Airbnb Anbieter ihre Privatwohnungen nur noch maximal 60 Tage pro Jahr vermieten. Es werden keine neuen Hotellizenzen mehr vergeben und Geschäfte, deren Warenportfolio sich ausschließlich an Touristen wendet, bekommen keine Verkaufserlaubnis.
Amsterdam ist damit die entspannteste Großstadt Europas. Kein Hupen, keine Abgase, kein Stau. Dafür gibt es Heerscharen an Fahrradfahrern und Fußgängern, sowie ein schlüssiges, öffentliches Verkehrsnetz. Die Niederländer trotzen dabei Wind und Wetter, ein leichter Nieselregen wird gar nicht weiter wahrgenommen. Es gibt überall Fahrradparkhäuser und weil es tausende Leihfahrräder gibt, übertrifft die Zahl der Räder, die Zahl der Anwohner Amsterdams. Ca. 15.000 dieser Räder fallen dabei jährlich in die Kanäle, aber das ist eine andere Geschichte, schließlich müssen auch etwa 5 Autos pro Jahr herausgefischt werden. Wer den genauen Standort seines Rades vergisst, wird es wohl nie wieder sehen. Das Fahrradfahren ist nicht nur gesund und praktikabel, die Menschen machen einen ausgeglichenen Eindruck und übergewichtige Niederländer scheint es auch nicht zugeben. Vielleicht hat die Entspanntheit ebenfalls etwas mit der notorischen Marihuanawolke zu tun, die in den engen Gassen des Red Light District über den Köpfen hängt. Auch wenn dieser Bezirk ein familientauglicher Abklatsch einer einst verrucht kriminell, dreckigen Vergangenheit ist, ist er doch eine einmalige, europäische Attraktion. Überhaupt ist die komplette Altstadt fußläufig gut zu erkunden und es sind immer nur wenige Gehminuten, um vom einen in den anderen Bezirk zu gelangen. Wer neben dem Traditionellen, Lust auf das junge, kreative Amsterdam hat, der steigt direkt hinter dem Hauptbahnhof auf die kostenfreie Fähre nach NDSM. Der ehemalige Schiffsdock ist das neue Kreativzentrum mit aufgeschüttetem Beach (Pllek), loftartigen Bistros (unsere Empfehlung: Restaurant Brooklyn) und einzigartigen Künstlerateliers in den alten Produktionshallen. Nur verrucht ist dagegen der Titel des „Sexyland“ Clubs. Ein innovatives Partykonzept welches 365 Teilnehmern die Möglichkeit gibt, an je einem Tag des Jahres eine eigene, originelle Party zu organisieren. Winters wie Sommers findet einmal im Monat ein großer Flohmarkt im Schiffsdock statt, der vor allem die jungen Amsterdamer anzieht. Der kulturelle Reichtum der Stadt durchzieht jedoch alle Viertel.
Im Süden befindet sich das Museumsquartier mit dem bekannten Rijksmuseum, dem van Gogh Museum und dem Museum für zeitgenössische Kunst Stedelijk. Es empfiehlt sich eine Onlinekartenreservierung oder die Iamsterdam Card, mit der man Zugang zu den meisten Museen bekommt. (Dummerweise muss man trotz dieser Karte in jedem Museum dennoch zunächst an der Kasse anstehen). Das van Gogh Museum ist unser Tip. Es zeigt nicht nur die wichtigsten Arbeiten van Goghs, sondern auch schlüssig dessen Entwicklung und sein künstlerisches Umfeld. Die Hermitage ist sehr zentral gelegen und bietet Werke aus der berühmten St. Petersburger Hermitage in Wechselausstellungen. Eine echte Überraschung bot das „Outsider Art Museum“, welches in den Räumlichkeiten der Hermitage beherbergt ist. Es zeigt Arbeiten von autistischen, geistig- oder körperlichen behinderten Menschen oder Künstlern, die am Rand der Gesellschaft – gewollt oder ungewollt – stehen. Ich konnte mir in dem anregenden Gespräch mit einem der Initiatoren die scherzhafte Bemerkung, dass dies wohl die Definition eines jeden guten Künstlers sei, nicht verkneifen. Tatsächlich waren einige der Arbeiten tief beeindruckend und von herausragender und unkonventioneller Qualität.
Nur wenige Meter weiter befindet sich das Rembrandthaus, in dem der Meister selbst sein Atelier hatte und in den Jahren 1639 bis 1658 wohnte. Dem berühmtesten Kind der Stadt begegnet man durchaus öfters, wenn auch in Form von Gemälden oder Liebschaften. So liegt in der Oude Kerk seine erste Frau Saskia begraben. Spannender ist da die Geschichte der Kirche selbst, die von der Unterdrückung der Katholiken genauso, wie der gesamten Stadtgeschichte erzählt.
Eine besondere Empfehlung ist das Schifffahrtsmuseum. Dort wurde dem Slogan „für die ganze Familie“ endlich eine Bedeutung gegeben. Das interaktive Museum schafft es auf liebevolle Weise, verschiedene Themenwelten zu generieren, die parallel auf unterschiedlichen Alters- und Wissensebenen durchlaufen werden können. Das Ganze ist nicht nur beeindruckend kurzweilig, sondern ein wirkliches Abenteuer und dabei Vorbildhaft für eine zeitgemäße Museumskultur – ganz nebenbei sind die Sandwiches in der Cafeteria eine echte Empfehlung. In Amsterdam ist die kulinarische Grundsituation generell hervorragend. Wer es einfach mag genießt z.B. Pommes mit einer der zahlreichen Saucen. Für Gourmets gibt es ebenfalls gute Alternativen. Wir besuchen das „Ciel Bleu Restaurant“ im Hotel Okura Amsterdam. Ausgezeichnet mit 2 Michelin Sternen rund um die Köche Onno Kokmeijer und Arjan Speelman.
Im 23. Stockwerk des Hotels Okura Amsterdam zaubern sie eine internationale Küche, die während unseres Aufenthaltes einen Schwerpunkt auf Meeresfrüchte gelegt hatte. Es geht weniger um molekulare Dekonstruktion, als vielmehr höchste Perfektion reiner Zutaten. Die einzelnen Elemente bleiben differenziert und sind gut strukturiert erkennbar. Abseits des mehr als ausgezeichneten Menüs überrascht das Ciel Bleu Restaurant mit einer ausgefeilten, optionalen, antialkoholischen Getränkebegleitung. Diverse Kreationen aus Säften und Tees, welche gewürzt und aromatisiert wurden - teilweise mit Kohlensäure zu prickelnden Momenten versetzt - bilden eine aufregende Abrundung der einzelnen Gänge. Überhaupt ist das Okura Hotel ganz auf Foodenthusiasten eingestellt. Mir ist kein anderes Hotel bekannt, welches 4 Restaurants beherbergt, von denen 3 bei Michelin ausgezeichnet sind. Neben dem Ciel Bleu Restaurant mit den 2 Sternen, gibt es noch 2 japanische Restaurants, welche mit jeweils einem Stern ausgezeichnet wurden: das Yamazato Restaurant und das Teppanyaki Restaurant Sazanka. Das von Baron Okura gegründete Hotel verfolgt dabei nicht weniger als den Anspruch, von allem das Beste zu bieten. Die Einrichtung ist reduziert, aber ausgesprochen hochwertig. Die Qualität des Frühstückrestaurant „Le Camelia“ gehört zu den Besten seiner Kategorie.
Das Hotel De L‘Europe trumpft ebenfalls mit einem 2 Sterne Restaurant auf: dem „Bord‘Eau“. Auch hier ist die Küche französisch inspiriert, genau wie in der ebenfalls internen „Hoofdstad Brasserie“. Das De L‘Europe ist mitten im Herzen von Amsterdam, romantisch an der Binnenamstel gelegen. Das Gebäude gehört zu den ältesten der Stadt und war bereits im 12. Jahrhundert Teil der Festungsanlage.
Mittlerweile wurden weitere Gebäude hinzugekauft und das Hotel Stück um Stück vergrößert. Diese schrittweise Vergrößerung brachte die Idee, die einzelnen Zimmer und Suiten in verschiedene Farbwelten zu tauchen. Gemeinsam haben jedoch alle, dass sich darin Repliken berühmter Malereien aus dem Rijksmuseum befinden. Es ist durchaus erstaunlich, wie vollkommen unterschiedlich sich die Zimmer bei eigentlich gleicher, hochwertigster Ausstattung anfühlen. Von den Zimmern – einige mit privaten Balkons – hat man einen fantastischen Blick auf die Kanäle. Unten vor dem Hotel hat bereits das eigene, elegante Hotelboot seinen Liegeplatz gefunden. Eine Fahrt mit ihm ist die wohl exklusivste Art, sich bei einem Glas Wein und kleinen Snacks, Amsterdam von den Wasserstraßen aus anzusehen. Gerne möchte ich an dieser Stelle die außerordentliche Hilfsbereitschaft und das Engagement des Personals betonen. Nach einer unschönen Erfahrung mit dem Dylan Hotel, das uns aufgrund eines Buchungsfehlers nicht aufnehmen konnte und dabei keinerlei Anstalten machte, uns in irgendeiner Weise in dieser höchst unerfreulichen Situation zu unterstützen, waren es die Mitarbeiter des De L‘Europe, die das Problem kurzfristig und unkompliziert lösten.
Amsterdam bietet eine interessante duale Philosophie aus individueller Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung. Einerseits liberal, was Sexualität, Drogenkonsum und Themen wie Integration angeht und andererseits rigoros bei ökologisch und wirtschaftlichen Fragen, die die Zukunft der ganzen Nation betreffen. Wir haben in diesem entspannten Klima beeindruckende Kulturschätze und enthusiastische Menschen kennengelernt, die Zusammen einen Ort außergewöhnlicher Lebensqualität prägen.
Tobias Vetter