Aarhus wird 2017 Europäische Kulturhauptstadt
Aarhus wird 2017 Europäische Kulturhauptstadt. Der Metropole Jütlands geht es gut. Kaum Arbeitslose, 40 Prozent der Bewohner studieren oder haben einen Hochschulabschluss. Dänemarks jüngste Stadt sprüht vor Ideen.
Zeitreise in eine Stadt vor 100 Jahren
Das Eingangstor steht offen. Niemand zu sehen. Aus einem windschiefen, zweistöckigen Fachwerkhaus höre ich ein Schnarchen. In einer dunklen Kammer liegt ein alter Mann in einem Holzbett. In seiner Hand hält er eine Flasche. Am rohen Holztisch nebenan sitzt ein blondes Mädchen. Sie trägt eine schmutzige Küchenschürze über dem blauen Kleid und schaut verängstigt auf den Schlafenden. Sie scheint aufstehen zu wollen, bewegt sich aber nicht. Sie ist eine lebensgroße Puppe.
In viele Häuser haben die Gestalter des Freilichtmuseums Gamle By Werkstätten eingebaut. Man sieht Schuster, Schreiner oder Töpfer früherer Jahrhunderte in originalgetreuer Umgebung bei der Arbeit.
Am Flüsschen Å entstehen die 70er Jahre neu: ein Schallplatten- und ein Kaufmannsladen im Erdgeschoss alter Backstein-Mietshäuser, darüber Wohnungen, eingerichtet wie damals.
In ganz Dänemark hat Gamle By seit seiner Gründung 1909 Gebäude abgebaut und zu einer neuen alten Stadt zusammengefügt: eine Mühle, ein Marktplatz, eine Gärtnerei mit Gewächshäusern. In einem Hinterhof hängt über einer alten Wasserpumpe Wäsche an der Leine, als kämen die Bewohner gleich zurück.
In einen Innenhof sitzen zwei Frauen hinter schwarzen Pferdekutschen auf einem Mühlstein bei der Zigarettenpause. Mette, die blonde Kräftige, schreibt für eine Lokalzeitung an der Westküste. Trotzdem wohnt sie weiterhin in Aarhus, „weil sie diese Stadt liebt“. Die 33jährige hat hier Journalismus studiert. Sie füttert die Pferde und mistet den Stall aus. Im Sommer fährt sie Besucher mit den Kutschen übers Gelände.
soziale Architektur
Wie ihre Kollegin Anna, die sich hier Geld zum Studium dazuverdient, wundert sie sich über das neueste Großprojekt der kleinen Metropole: 2017 wird Aarhus Europäische Kulturhauptstadt. Re-Think, Neu Denken nennen die Macher ihr Konzept des Programms. Zwei Millionen Kronen habe die Stadt für eine Werbekampagne ausgegeben, die die meisten Einheimischen nicht verstehen. „Warum Englisch, warum ein so abstrakter Titel?“
Die Suche nach Antworten führt zu einem UFO, das im Hafen auf der anderen Seite der Innenstadt gelandet ist. DOKK1 steht in weißer Leuchtschrift auf dem grauen Raumschiff am Wasser. Am Infoschalter empfängt eine junge Frau die Besucher. Ihr akkurat um den Kopf gewickelter Hijab verstärkt das Leuchten ihrer schwarzen-braunen Augen. In fehlerfreiem Englisch erklärt sie den Weg zum Kulturhauptstadtbüro.
Das Dokk 1 beherbergt eine der größten öffentlichen Bibliotheken Skandinaviens, Bürgerberatung, Tagungsräume, Vortragssäle, Büros. Neben den breiten Stufen haben die Architekten Rollstuhlfahrern komfortable Rampen gebaut.
Als „soziale Architektur“ beschreibt Rebecca Matthews die modernen Bauten des Nordens. Offene Treppen, auf denen man sich automatisch begegnet, verbinden die verschiedenen Etagen, helle, hohe Räume, Sitz- und Spiel-Ecken. Dänische Gebäude nennt die etwa 50jährige Leiterin des Kulturhauptstadt-Programms »therapeutisch«. „Sie regen den Körper zur Bewegung an.
Matthews ist vor ein paar Jahren aus England nach Aarhus gezogen. Ihre Wahlheimat erlebt sie als »Inkubator für Ideen in Kunst, Kultur und Medien«. An den Hochschulen studieren junge Leute Journalismus, Mediendesign und weitere kreative Fächer.
Immer wieder staunt die weltgewandte Britin über den Gemeinschaftsgeist, der in Dänemark nicht nur die Architektur prägt. „Kinder wachsen als Mittelpunkt der Familie frei auf.“ Überall dürften sie spielen, auf den Treppen des Dokk 1, am nahen Strand, auf den vielen verkehrsberuhigten oder autofreien Straßen und den vielen Grünflächen.
Das Motto Re-Think versteht Matthews als Anregung, gemeinsam die großen Themen unserer Zeit zu überdenken: Landflucht, Umweltzerstörung, Nachhaltigkeit. Im Kulturhauptstadtjahr will sie auf dem »World Creativity Forum« Künstler, Denker, Wissenschaftler und Leute aus der Wirtschaft zusammenbringen.
Kunst soll auf die Menschen zugehen. Im kommenden Sommer wird eine vier Kilometer lange Installation die Innenstadt bis zum Hafen durchziehen, eine weitere Jütland von Ost nach West durchqueren.
Der Reiseführer Lonely Planet hat Aarhus schon auf den zweiten Platz Top-Ziele Europas gesetzt. 2017 erwartet die Stadt drei Mal so viele Kreuzfahrtschiffe wie 2015.
Frühgeschichte unter der Grasnabe
Hinter einem alten Gutshaus toben Schulkinder auf einer schrägen, rund ein Fussballfeld großen Rasenfläche. Das Moesgaard-Museum liegt darunter. Es wurde in den Berg hinein gebaut.
Drinnen sitzt auf einer breiten offenen Treppe Wissenschaftler Stephen Hawking in seinem Rollstuhl zwischen einem Ureinwohner Neuguineas und einer sibirischen Schamanin.
Die drei täuschend echt aussehend Wachsfiguren scheinen angeregt zu diskutieren. Auf den Stufen weisen mir Steinzeitmenschen den Weg in die Frühgeschichte Dänemarks. Im ersten Raum liegen in grobe braune Stoffe gehüllte Mumien in ihren Särgen. Die Ausstellung erzählt die Geschichte dieser und anderer Bronzezeit-Menschen. Fundstücke, Bilder, ein Breitleinwand-Film und viele Bildschirm-Installationen entführen ins Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung. An nachgebauten Figuren und Objekten erspüren Besucher unter einer undurchsichtigen Maske die Mythen und den Glauben jener Zeit. Über Kopfhörer erklärt eine Stimme, was man gerade ertaste: ein mit einem Löwen geschmücktes Schild, Fabeltiere und Gottheiten. Eine Zeitreise zum Hören, sehen und fühlen.
Jacobs zweites Leben
Auf dem grünen Dach des Mitten im Wald gelegenen Museums wird Europas Kulturhauptstadt 2017 ein Wikingerspektakel inszenieren. Vor 1000 Jahren gründeten die Nordmänner Aarhus an einer geschützten Bucht. Erst in den letzten Jahrzehnten hatte sich Aarhus vom Wasser abgewandt. Am Hafen standen Lagerhäuser, Fabriken, Kräne und Lastwagen. Die Flächen dazwischen dienten dem Auto- und Warenverkehr. Jetzt baut sich die Stadt eine neue Promenade. An deren nördlichem Ende wächst Zukunftsarchitektur in den Himmel. Århus Ø, Aarhus Ö heißt das neue Quartier für 8.000 Menschen hinter der Strandbar mit ihren Beachvolleyball-Feldern.
Als „Garten am Wasser“ preist die Stadt ihr neues, von Kanälen durchzogenes Viertel: Wolkenkratzer, geschwungene Bauten, das einem Leuchtturm nachempfundene Lighthouse und der Eisberg, ein in weiss und türkisblau gehaltener, bizarr geformter Komplex aus scheinbar ineinander verschachtelten Apartments.
Schwimmende Meerschweinchen beim Abendessen
„Oh, die sind wohl gerade beim Abendessen und haben keine Zeit für uns.“ Hindrik antwortet gerne mit Humor. 18.000 Schweinswale tummeln sich angeblich in der Meeresbucht vor Aarhus Ø. Mit einem Freund hat Hindrik die Sea Rangers gegründet. Mit Schnellbooten fahren die beiden Besuchergruppen auf die See, um ihnen das Leben im Wasser zu zeigen. Kurz taucht tatsächlich eine bleigraue Flosse auf, um sofort wieder zu verschwinden. Marswin, Meerschweine, heißt die kleinste Delfinart auf Dänisch. Vor 30 Jahren sei die See hier tot gewesen, mit Abwässern vergiftet. Heute gebe es wieder reichlich Fische, Seehunde und neues Leben an den künstlichen Riffen, die die Sea Ranger angelegt haben.
Nach gut einer Stunde Suche nach Schweinswalen, einem Vortrag über die Wikinger, die hier ihre vor 1000 Jahren ihre Stadt gegründeten, den Stadtumbau am Wasser, dem Blick auf den Hafen und die Seeseite der Neubauten von Århus Ø steht die Besuchergruppe wieder auf festem Boden. „Bei uns sind die Leute mal ganz offline und erleben die Natur“, schwärmt Organisator Hinrik.
Aus einer Seitenstraße in der Altstadt dringt Johlen und Singen. Die Studenten sind wieder da. „Heute ist der zweite Tag an der Uni. Da ziehen wir durch die Stadt und betrinken uns“, erklärt eine Blonde mit einer Flasche Sekt in der Hand. Sie liebt Aarhus, „groß genug, um viele Anregungen zu bekommen und dabei überschaubar“. Um die Ecke beginnt das Quartier Latin. So nennen die Einheimischen ihr Ausgehviertel mit bunten Cafés, Designerläden und Kneipen. An der Mijlgade haben die Straßencafés und Bars zwischen Trödel- und Klamottenläden Stühle auf den Bürgersteig gestellt. Die Gäste genießen die Abendsonne.
„Gadehygge in Mijlgade“ steht auf einem großen Plakat an der Rückwand der Bar Ras Ras. Übersetzen könnten man das Wort am ehesten mit „Straßen-Gemütlichkeit“. Leute kommen und gehen. Viele begrüßen sich mit Handschlag, einige mit Küsschen oder herzlicher Umarmung. „Hier kann jeder so sein wie er will, wenn er mag auch im Schlafanzug herumlaufen«, freut sich Studentin Karen. »Trotzdem lebt man in einer vertrauten Umgebung«. Die 22jährige mit dem silber glitzernden Piercing-Ring in der Unterlippe nippt an ihrem Feierabendbier und begrüsst eine Freundin, die gerade hereinkommt. »Hier triffst Du immer Leute, die du kennst«, ergänzt sie.
Schade findet sie, dass zahlreiche Musikkneipen schließen müssen, weil sie die teuren Mieten nicht mehr bezahlen können. Dennoch halten sich einige Clubs – viele davon mit staatlicher oder städtischer Unterstützung. Im Headquarter, dem HQ, gegenüber der Musikhochschule organisiert Magnus die wöchentliche Open Mike Night. Liedermacher, die dort auftreten wollen, bewerben sich bei ihm. Sogar werktags sind fast alle Stühle besetzt. Die Gäste lauschen konzentriert. Magnus selbst spielt in drei Bands.Im HQ gibt er Anfängern genauso eine Chance wie etablierten Musikern. Obwohl längst bekannt treten viele von ihnen gerne hier auf, »weil sie die intime Atmosphäre schätzen«.
Liedermacher Svend Seegert ist heute nur zum Zuhören gekommen, spielt aber tags darauf im Gyngen, einem winzigen Club in einem alten Hinterhof an der Mijlgade. Der 56jährige zeigt „sein“ Aarhus: Die Mühlgasse mit ihren niedrigen Backsteinhäuschen zum Beispiel. „Früher wohnten hier die armen Leute, die sich nichts anderes leisten konnten. Inzwischen sind die Reihenhäuschen mit den Vorgärten voller bunter Blumen liebevoll restauriert und teuer. Statt Verkehrslärm hören die Anwohner mitten in der Stadt die Vögel zwitschern.
Svend hat Musikwissenschaften und Kunstgeschichte studiert. Seitdem schlägt er sich als Liedermacher und Musiklehrer durch. Inspiration für Stücke gewinnt er aus Begegnungen mit seinen Freunden oder Liebesgeschichten, an die ihn viele Plätze der Stadt erinnern.
Das neue Aarhus liegt hinter dem ehemaligen Güterbahnhof, den die Stadt zum Kulturzentrum umgebaut hat. Junge Leute haben das weitläufige Freigelände zwischen den stillgelegten Gleisen besetzt, improvisierte Cafés und ein kleines Restaurant eröffnet.
Viele leben und arbeiten in Containern, die sie in gemütliche Behausungen verwandelt haben. »Mad Bar« steht in weißer Handschrift auf einer schwarzen Tafel an einem der rostbraunen Container. Durch das eingeschnittene Fenster schenkt Christian Kaffee aus.
Die beiden versetzt übereinander gestapelten Schiffscontainer gegenüber hat sich der 30jährige zur Wohnung umgebaut: Decke und Wände isoliert, innen mit Holz vertäfelt, einen Fußboden verlegt, Fenster und eine Tür hineingeschnitten. Mit einem Geschäftspartner will er damit Geld verdienen: Wir kaufen gebrauchte Container, bauen sie aus und vermieten oder verkaufen sie weiter: eine Marktlücke angesichts der Wohnungsnot in Europas Grossstädten.
Das junge, bunte Aarhus hat mir das Europa gezeigt, das ich mir wünsche: Eine Stadt voller Ideen, tolerant und offen für Neues ohne seine Geschichte der Abrissbirne zu opfern.
χ Robert B. Fishman
„Reisen heißt Leben“
Hans Christian Andersen
weitere Informationen
Twww.visitaarhus.de
www.aarhus2017.dk
An- und Weiterreise
www.rejseplanen.dk
www.abildskou.dk
www.dsb.dk
Termine
Ende Juli: Wikingerfest am
Moesgård Museum
www.moesgaardmuseum.dk
August:Stadtfest Festuge
www.aarhusfestuge.dk
weitere Informationen zu Robert Fishman: