„Allein die Dosis macht´s, dass ein Ding kein Gift sei.“ Paracelsus
Die Fastenzeit ist gerade wieder vorbei und vielleicht haben auch Sie in dieser Zeit zwischen Aschermittwoch und Ostern Verzicht geübt, oder zumindest darüber nachgedacht. Wenn man nach den Gründen des Fastens fragt, werden Einige auf die dahinter stehende religiöse Tradition verweisen, Andere scheinen der Überzeugung zu sein, dass bereits der Akt der Selbstkasteiung einen Wert an sich darstelle. Aus psychologischer Sicht kann das Fasten allerdings aus anderen Gründen eine überaus hilfreiche Übung sein.
Den Bezugspunkt für das Fasten bildet in unserem Kulturraum die Geschichte Jesu, der 40 Tage fastend in der Wüste verbrachte und vom Teufel in Versuchung geführt wurde. Traditionell bringen wir mit dem Begriff „Fasten“ den Verzicht auf Speisen und Getränke in Verbindung. So verzichten auch heute Fastende häufig auf den Verzehr von Nahrungsmitteln wie Fleisch, Schokolade oder Alkohol. Am sinnvollsten wäre ein Verzicht auf etwas, ohne das wir scheinbar „nicht können“. Also etwas, von dem wir im weitesten Sinne abhängig sind. Bei „Abhängigkeit“ denken die Meisten womöglich zuerst an illegale Drogen wie Heroin oder Kokain, vielleicht auch noch an andere Genussmittel wie Alkohol und Zigaretten oder auch an die steigende Zahl von Medikamenten abhängiger Menschen. Wer sich eingehender mit dem Thema beschäftigt, stellt fest, dass man auch von scheinbar harmlosen Dingen wie Koffein oder Zucker abhängig sein kann. Abhängigkeiten oder Süchte sind aber nicht nur auf Substanzen beschränkt. Auch von Verhaltensweisen kann man abhängig sein. Verdächtig machen sich z. B. pausenloses Arbeiten („Workaholic“), übermäßiger Sport, exzessiver TV- und Internetkonsum, obsessives Sexualverhalten oder unnötiges Shopping.
Ich möchte Sie jedoch noch auf eine andere Art von Abhängigkeiten aufmerksam machen, die den meisten Menschen gar nicht bewusst sein dürfte. Nämlich die Abhängigkeit von einem bestimmten Selbstbild. Die grundlegende Motivation hinter vielen unserer alltäglichen Handlungen besteht – bewusst oder unbewusst – darin, sich selbst und seinen Mitmenschen ein bestimmtes, konsistentes Bild von sich zu vermitteln. Dieses zentrale Motiv lässt sich häufig sogar auf einen einzigen Aspekt reduzieren, wie z. B. „Anderen gefallen“ zu wollen, „im Recht“ zu sein, wahlweise „verantwortlich/nicht verantwortlich“ zu sein oder als „gut“, „intelligent“ oder „stark“ zu gelten. Interessanterweise kann man sogar „süchtig“ nach einem negativen Selbstbild sein, also z. B. vehement daran festhalten und aktiv dazu beitragen sich als „schlecht“, „dumm“ oder „schwach“ zu betrachten.
Worin besteht nun die starke Anziehungskraft süchtiger Strukturen, wenn diese doch so offensichtliche Nachteile haben wie direkte gesundheitliche Schäden (im Fall von Drogen, Alkohol, übermäßigem Sport etc.) oder negatives emotionales Empfinden, das mit einem negativen Selbstbild einher geht? Die Antwort besteht darin, dass das Suchtmittel bzw. das süchtige Verhalten jeweils den leichteren Weg darstellt. D. .h. sowohl im Alltag als auch insbesondere in belastenden Situationen gehen wir alle in der Regel den Weg des geringsten Widerstandes.
Ab wann ist Substanzkonsum oder eine Verhaltenstendenz nun aber als problematisch zu erachten? Hier kann ich nur auf das Zitat in der Überschrift verweisen: die Dosis macht das Gift. Von einer Abhängigkeit kann man letztlich dann sprechen, wenn praktisch immer starr in unterschiedlichsten Situationen das „süchtige“ Verhalten als Reaktion gewählt wird. Da sich Situationen von Mal zu Mal unterscheiden, ist es natürlich nicht sinnvoll und zielführend immer auf die gleiche Art zu reagieren. Dass es keine besonders gute Lösung darstellt auf Konflikte oder Überforderung mit Alkohol- oder Drogenkonsum zu reagieren, liegt vielleicht noch auf der Hand. Dass die Notwendigkeit immer „stark“ sein zu müssen auch hinderlich sein kann ist vielleicht nicht so offensichtlich und macht sich vor allem in Situationen bemerkbar, in denen es hilfreicher wäre, sich eine „Schwäche“ einzugestehen um dann z. B. nach Hilfe zu fragen.
Der Sinn des Fastens könnte nun darin bestehen, diejenigen Substanzen, Verhaltensweisen und Selbstbildaspekte ausfindig zu machen, ohne die Sie scheinbar „nicht können“. Hier geht es um ein Ausprobieren. Wie leicht oder schwer Ihnen der Verzicht fällt, gibt Ihnen einen Hinweis darauf, wie abhängig Sie davon sind. Es geht letztlich darum durch den Verzicht Ihre Flexibilität zu schulen und Ihre Möglichkeiten zu erweitern auf die Herausforderungen des Lebens zu reagieren. Ein sehr simples Maß seelischer Gesundheit besteht schließlich darin, wie flexibel man ist. Konkret bedeutet das, dass es immer besser ist, wenn man beides kann: „Stark“ und „schwach“ sein, „Sport treiben“ und „faulenzen“, „diszipliniert sein“ und „genießen“, „nachgiebig“ und „durchsetzungsstark“ sein, um nur einige Beispiele zu nennen. Denn nur dann kann man flexibel auf unterschiedlichste Situationen reagieren.
Mein Tipp wäre, dass Sie sich jeweils eine Sache aussuchen, auf die Sie regelmäßig und unhinterfragt in allen möglichen Situationen zurückgreifen um als Experiment ca. vier bis sechs Wochen darauf zu verzichten.
Dieser Zeitraum macht aus psychologischer Sicht Sinn um alternative Verhaltensweisen zu etablieren und deckt sich interessanterweise auch mit den eingangs erwähnten 40 Tagen, die Jesus in der Wüste verbracht hat. Und ebenso wie Jesus werden Sie den Versuchungen des „Teufels“ Abhängigkeit widerstehen müssen, der mit allen Tricks (z. B. unangenehme Gefühle, plausibel klingende Ausreden) versuchen wird, Sie zu Ihrem „süchtigen“ Verhalten zu bewegen. Das Fasten bildet somit ein Gegengewicht zu Ihrem sonstigen Verhalten. Nach Ihren „40 Tagen in der Wüste“ wird es dann jedoch darum gehen einen auf die jeweilige Situation abgestimmten Mittelweg zu gehen. Sie müssen übrigens nicht bis zur nächsten offiziellen Fastenzeit warten. Der beste Zeitpunkt etwas zu ändern ist bekanntermaßen jetzt.
Dr. Alexander Noll leitet als Psychotherapeut eine Privatpraxis in Berlin und gibt Seminare und Workshops in ganz Deutschland. www.dr-alexander-noll.de