Man scheint die Bilder Andrej Barovs zu kennen, sie wirken so vertraut. Und das sind sie in der Tat, jedoch in ungewöhnlicher Form. Man kennt sie, und man kennt sie nicht. Jedem ist Raffaels Schule von Athen schon begegnet. Doch dieser streng gegliederte Farbenteppich, der im Herbst 2005 das Deckenlicht des Hauses der Kulturinstitute in München eingenommen hat, dieses Mosaik, das einer wild geordneten Farbpalette gleicht, soll eine direkte Farbübersetzung eines der Meisterwerke der Renaissancekunst sein? Wie ist das möglich? Und mit welcher Absicht passiert dies? Barovs abstrakte Schule von Athen ist mittels eines Computerprogramms entstanden, das die Farbinformation eines digitalen Bildes in eine Tabelle aus maximal 256 Farben übersetzt.Platzierung und Häufigkeit der jeweiligen Farben werden hierbei grob widergespiegelt, allerdings losgelöst von der Gegenständlichkeit.
Eine Skala von 256 Farben bedeutet zwar eine Reduktion der tatsächlichen Farbwerte, entspricht jedoch der für Computer gebräuchlichen Skala und genügt den Ansprüchen einer vollständigen Farbwiedergabe. Diese Bilder zeigen uns gewissermaßen, wie ein Computer ein Kunstwerk sieht: Er speichert alle Positionen der 256 Farben auf der jeweiligen Bildfläche – die sogenannte „indizierte Farbpalette“ – und kann hieraus jederzeit ein Bild generieren, das unseren Sehgewohnheiten entspricht.
Jedes Mal, wenn wir am Computer also ein „jpeg“ aufrufen, ereignet sich dieser Übersetzungsvorgang aufs Neue. Barovs Bilder rufen uns zu, was wir schon längst wissen und immer wieder verdrängen: Das menschliche Sehorgan kann ausschließlich Farbimpulse und Kontraste aufnehmen. Der kunsthistorische Disegno ist für unser Auge in dieser Abstraktheit nicht wahrnehmbar. „In der Natur gibt es keine Linien“, hat bereits Leonardo, einer der frühesten neuzeitlichen Künstler-Wissenschaftler, mit wachen Augen erkannt. Und wo wird dies sinnfälliger als hier, in dem Farbübersetzungsprozess, den der Computer bei der Digitalisierung leistet? Für den Computer wie für unser Gehirn gibt es nur bestimmte Farben an bestimmten Positionen.
Doch wenn wir vorm Bildschirm sitzen und unseren Alltagsdingen nachgehen, sind wir blind für diesen Vorgang. Erst eine fein vermittelte künstlerische Umsetzung vermag uns die Augen zu öffnen.
Auch die übrigen in dieser Ausstellung gezeigten Serien Barovs schärfen unser Verständnis hierfür. Andrej Barov hat ein ausgeprägtes, differenziertes Sensorium für die Allgegenwärtigkeit komponierter Bilder in unserer Lebenswelt. Ob dies nun die Stars und Sternchen aus der Klatschpresse, Parfumflakons, Getränkeflaschen oder die quietschbunten Labels der Waschmittelmarken sind – überall versuchen Motive und Farbzusammensetzungen, mit uns zu kommunizieren oder uns gar zu manipulieren. Es geht bei Barov um das Sehen von Bildern jeglicher Art, um das Leben mit Bildern und ihrer dogmatischen Kraft. Der Künstler schärft unser Bewusstsein mittels zeitgenössischer Verfahrensweisen für zeitgenössische Erkenntnisse, die einen fundamentalen Eingriff in unser Bild von der Welt bedeuten. Das ist es, was Barovs Brain-Art leistet.
Die Überzeugung vom gerichteten Verstand als patriarchaler Größe im Hause des menschlichen Körpers ist auf beängstigende Weise ins Wanken geraten. Freier Wille? Objekt–Subjekt? Schein und Wirklichkeit? Alles Lug und Trug, nur der Fantasie des Menschen und seinem Selbstverständnis als Krone der Schöpfung entsprungen? Das sind heute Fragen, die fern der traditionell philosophischen Überlegungen in dem als faktenorientiert geltenden Bereich der Naturwissenschaften gestellt und vermeintlich beantwortet werden. Und wo würde uns selbst dieser grundlegende Zweifel an den Pfeilern unseres Weltverständnisses empfindlicher treffen als im Reich der Bilder, die wir mit unseren Augen als dem sprichwörtlichen Tor zu Welt aufnehmen?
Barovs kritischer Gestus richtet sich demnach nicht auf die visuelle Kultur als solche, er will vielmehr ein Bewusstsein schaffen für unsere unbewussten Hypothesen über die Welt. Die Farbe galt in der Kunst immer als Bereich der Emotion,
der Kolorist als feinfühliger Bildschaffender im Gegensatz zum strengen Konzeptualisten. Andrej Barov verknüpft diese häufig als strikt gegensätzlich beschriebenen Pole aus Konzeption und Emotion in seinem Schaffen.
Johannes Vogt, Pinakothek der Moderne München